Gone going

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Jordan, 2015

the nap

the cold. inside out

(Fortlaufende) Gedanken zur Glaubwürdigkeitskrise der Medien

Vielleicht ist die gegenwärtige Vertrauenskrise der Medien auch ein Symptom für eine tiefergehende Krise. Die Bürger benutzen die Fehler der Journalisten, um diese in Kommentarspalten (also auf Plattformen, die die Medien selbst bereitstellen) aufzudecken und sich so ihrer eigenen Macht und und Handlungsfähigkeit zu vergewissern. In der Wirtschaft und der Politik haben sie diese ja längst eingebüßt: Streiks werden durch den globalen Wettbewerb unwirksam gemacht und Wahlen mit unterschiedlichen Ergebnissen führen doch erstaunlich oft zu der gleichen Politik. Wenn das stimmt, wären Journalisten ultimativ auch auf die anderen Eliten angewiesen, um wieder glaubwürdig zu werden, müssten aber natürlich zunächst das implizite Versprechen einlösen, dass sie geben, wenn sie eine Kommentarspalte einrichten: „Wir hören euch zu“. – 16.11.

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Auffällig ist, dass eine Konfliktlinie zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist, was als Manipulation gilt und was als handwerklicher Fehler. Das illustriert die Debatte um den einsamen Putin von Brisbane, die zwischen Stefan Niggemeier und der Tagesschau entbrannt ist. Der Chefredakteur fühlt sich zu unrecht angegriffen:

„Nun wirft uns Niggemeier vor, absichtlich [Hervorhebung durch mich] diesen Ausschnitt gewählt zu haben, in dem Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vom Kellner verdeckt ist, um so zu tun, als ob Putin allein am Tisch gesessen habe.“

Und das stimmt nicht. Niggemeier wirft ihnen vor, einen Fehler gemacht zu haben an einer Stelle und bei einem Thema, bei dem derzeit keine Fehler passieren dürfen. Er wirft ihnen vor, ungeschickt zu agieren, was Gniffke noch verschlimmert durch seine Antwort. Es ist schwer, eine Manipulation von einem Fehler zu unterscheiden, weil beides ähnlich aussehen kann, aber unterschieden wird, weil die Manipulation gewollt ist und der Fehler nicht. Helfen könnten mehr Informationen darüber, wie die Nachricht entstanden ist oder ein persönlicher Draht zu dem Reporter. Helfen würde auch Vertrauen; ein Teufelskreis. – 18.11.

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Dieser Daily-Dot-Artikel liefert eine wichtige Spur in der Vertrauenskrise:

Buzzfeed’s ability to dominate the dissemination of its articles over social media with only approximately two percent of population both knowing what Buzzfeed it and viewing it as a trusted news source is evidence that trust doesn’t matter anymore when it comes to online media—especially when its disseminated through Facebook.

Pew researcher Kenny Olmstead noted that Facebook has the tendency to make people forget what outlet produced a specific piece of information, like the New York Times, and instead substitute the platform they used to discover the content in question—Facebook.

Das heißt: Der Journalist hat die Arbeit, der Verteiler bekommt das Vertrauen. Es heißt aber auch, dass es für Medien schwierig ist, eine vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Lesern über Facebook aufzubauen. Und es heißt auch: Medien müssen viel stärker daran arbeiten, eine Plattform zu werden, die Leser gezielt ansteuern. – 19.11

(Dank Simon bin ich auf diesen Artikel gestoßen).

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Journalisten halten sich für die Guten, glauben qua Beruf auf der richtigen Seite aller Konflikte zu sein. Vielleicht ist das eine Ursache für den Zynismus, den viele von ihnen zur Schau stellen und er aus ihrer Sicht eine legitime Kritik ist. Wer glaubt, dass er im Recht sei, schreibt spitzer, titelt plakativer, urteilt härter. – 23.11.

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Wir sollten aber auch nicht alle Schuld den Journalisten zuschieben: Sie können nichts dafür, dass einige Menschen nicht verstehen, dass nicht jede Webseite und jedes Youtube-Video gleichermaßen ihre Aufmerksamkeit verdient. Dass die Informationen im Netz technisch gesehen zwar völlig gleich sind, aber deswegen nicht gleich viel wert. Wobei „Wert“ natürlich schwammig ist. Für die Kritiker der „Mainstream-Medien“ sind alternative Angebote schon wegen ihrer bloßen Existenz etwas wert während sich die „Mainstream-Medien“ mit jedem Beitrag neu rechtfertigen müssen. – 23.11.

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Ein Weg aus der Krise ist die persönliche Bande, die Ansprechbarkeit der Journalisten. Was dann aber auch dazu gehört: Redaktionelle Eingriffe, für die der Autor meistens nichts kann, sichtbar zu machen bspw. kommt es immer wieder vor, dass die Redaktion Überschriften so zuspitzt, dass sie falsch sind oder die Tatsachen verdrehen. Dafür rechtfertigen muss sich dann der Autor obwohl er der falsche Adressat ist. Wir könnten das mit einem einfachen Vermerk „Redigiert von..“ erreichen. Oder den Autoren das letzte Wort überlassen, so dass sie tatsächlich verantwortlich gemacht werden können. – 23.11.

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in loser Folge denke ich gerade über die vertrauenskrise nach, die unsere gesellschaft erschüttert. hier geht es zum ersten teil

Das Vertrauen bröckelt in einem kleinen, steten Beben

Ein paar noch unrunde Überlegungen zum allgegenwärtigen Misstrauen. Ich freue mich über eure Meinungen.

Die Vertrauenskrise, in der sich Deutschland und seine europäischen Nach barn befinden, ist umfassend. Die Bürger misstrauen den Politikern, der so genannten „politischen Klasse“, die abgehoben sei, machtversessen und egoman. Sie misstrauen den Bankern, die unsere Zivilisationen vor sechs Jahren im Mark erschüttern haben. Sie misstrauen den Chefs, die 30-mal so viel verdienen wie sie. Sie misstrauen den Journalisten, die in der Wulff-Affäre Bobbycars hinterhertelefonierten, sich in der Ukraine-Krise im Schützengraben wähnen und Demonstranten als „Wutbürger“, Nato-Kritiker als „Putin-Versteher“ schmähen. Ja selbst die Wissenschaftler und Staatsanwälte sind nach Plagiatsskandalen und fragwürdigen Klageschriften (Kachelmann, Wulff) nicht mehr unbefleckt.

Die Bürger misstrauen ihren Eliten, so viel ist sicher. Das ist verheerend, denn diese Eliten sind sichtbar, sie bewegen sich auf einer Bühne. Sie sind mit Sicherheit keine Vorbilder so wie Mario Götze ein Vorbild für kleine Fußball-Stars ist. Sie sind aber die Taktgeber der Gesellschaft; sie prägen, in dem sie vorleben. Ihre Verfehlungen vergrößern sich hundertfach und werden stilprägend. Wenn das Verhalten der Eliten anrüchig ist, wirkt es oft so als sei die ganze Gesellschaft verdorben. Mehr noch: Eliten verderben die Gesellschaft.

Beispiel: Ein Bundeskanzler nimmt kurz nach dem Ende seiner Amtszeit die Dienste eines großen Gaskonzerns an, den er vorher politisch protegiert hatte. Der Bundeskanzler hatte zuvor einen Eid geschworen, zum Wohle des Volkes zu arbeiten, den er aber hintenanstellt, sobald er es darf und sich lieber nimmt, was er kriegen kann. Warum sollte nicht auch ein kleiner Bürger jede legale Gelegenheit ergreifen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, wenn der Bundeskanzler es genauso macht? Und, wenn ein Rechtschaffener sieht, dass sein Mitbürger so handelt, warum sollte er es nicht selbst auch tun?

Noch ein Beispiel: Wenn Journalisten einen Gewerkschaftschef persönlich verunglimpfen, aber nicht gleichzeitig erklären, welche Rolle das Multi-Milliarden-Euro-Unternehmen spielt, das ihm gegenübersteht, dann wundere ich mich nicht, warum unter Nachbarn lieber geklagt wird als nachgefragt.

Wenn aber die Bürger sich grundlegend misstrauen, gerät alles ins Wanken. Dieser Effekt wird in unseren Zeiten verstärkt durch die allgemeine Unsicherheit, die Klimawandel, Wirtschaftskrisen und Terroranschläge hervorrufen. In einer guten Gesellschaft sind sich die Menschen sicher, dass ihre Mitbürger, auch wenn sie anders denken, leben, aussehen, noch eine Überzeugung teilen: dass es wichtig ist, was den Mitmenschen zustößt, dass sie das Gemeinwohl im Auge haben. Das Streben nach dem Gemeinwohl müsste sich wie ein kleiner Faden von der Ärztin zum Müllmann zum Offizier zur Studentin ziehen. Das würde Sicherheit schaffen. Denn, wenn ich weiß, dass sich mein Gegenüber auch um die Gemeinschaft kümmert, teile ich etwas mit ihm, habe weniger Angst vor ihm und traue ihm und meinen Mitmenschen generell mehr zu. Der Zusammenhalt wäre größer und die Gefahr von Radikalisierung und Extremismus kleiner.

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Ich spüre diese große Vertrauenskrise wie ein kleines, stetes Beben. Ich kann bisher keinen dieser Gedanken belegen. Das wollte ich an dieser Stelle aber auch noch nicht. Entsprechende Studien und Umfragen werde ich bei Gelegenheit heraussuchen. Über Hinweise bin ich dankbar.

 

Ich bin Journalist. Und seit heute auch noch ein bisschen mehr.

Ankündigungsplakat für den ersten Krautreporter-Lesertreff am 13. November 2014 im Wilma, Berlin

Ich bin 28 Jahre alt, die längste Zeit davon Journalist.
Manche meiner Aufgaben sind inzwischen Routine geworden. Was gut ist, denn bei meinem Telefonpensum darf ich einfach nicht mehr wie früher jedes Mal einen 20-minütigen Disput mit mir selbst halten bevor ich zum Hörer greife, nur weil ich so aufgeregt bin. Was aber auch schlecht ist, denn Routine bedeutet Langeweile, Gewohnheit, das Ende der Wachheit. Heute Abend aber habe ich etwas ganz Einfaches gemacht: ich habe meine Leser getroffen. 20 von ihnen kamen in eine wunderbar gemütliche Stube im Wedding zu einem Lesertreff von Krautreporter. Ich erzählte von meinen Westsahara-Recherchen, interviewte Said, der in einem Flüchtlingslager geboren wurde live vor Ort, wir diskutierten über neue Themen und darüber, was Krautreporter sein kann und sein soll. Manche dort waren Jahrgang 58, und manche Jahrgang 93, aber alle hatten sie Bock, sie waren freundlich, offen, überlegt, witzig und konstruktiv. Sie brachten mich in moralische Dilemmata, rissen den Vorhang meines Denkens auf, sagten genau das, was ich noch eine Stunde früher in der U-Bahn gedacht hatte. Sie gaben mir Anlass, sehr stolz auf sie zu sein. Was eigenartig ist, weil ich ja nichts mit diesen fremden Menschen gemein hatte, außer ein paar Krautreporter-Geschichten. Dieser Abend war alles andere als Routine. Ich musste sehr wach sein, um dort nichts zu verpassen. Ich bin die längste Zeit Journalist und seit heute Abend auch noch etwas anderes. Und das ist ziemlich gut.

Serbian Soldiers clean their tanks in front of a Shopping Center in Belgrade o 16. October 2014

Putzen in Belgrad

Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung von Belgrad von der deutschen Besatzung, ließ Serbien zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Panzer für eine Militärparade aufrollen. Wochenlang haben die Serben vorher über diese Parade diskutiert; was sie bedeutet, ob sie wirklich nötig sei und warum sie eigentlich vier Tage zu früh stattfindet… Wladimir Putin kam zu einer Stippvisite und – so wird geschrieben – der russische Präsident hatte am 20. Oktober keine Zeit. Zu Ehren des hohen Gastes wurde die Geschichte etwas frisiert und gestern einfach früher paradiert.

Lange Reihen von putzenden Soldaten zierten die Straße rund um das Paradegelände. Das Kriegsgerät musste glänzen, nur viel genützt hat es nicht. Denn just als die Parade anfing, öffnete sich der Himmel und es regnete in Strömen. Hunderte, Tausende flüchteten von dem Gelände. Am Montag, dem eigentlichen Jubiläumstag, beträgt die Regenwahrscheinlichkeit übrigens 0 Prozent.

Serbian Soldiers clean their tanks in front of a Shopping Center in Belgrade o 16. October 2014Serbian Soldiers clean their tanks in front of Hypo Alpe Adria tower in Belgrade o 16. October 2014Three Serbian soldiers clean their jeep before parade on 16th of October in Belgrade

Helft mir recherchieren: Russland, Serbien (und die EU)

Russlands Präsident Dmitri Medwedew spricht 2009 vor der serbischen Nationalversammlung. Quelle: Wikipedia / CC-SA-BY 3.0

Es war niemand aus der EU. Nicht der deutsche Bundeskanzler, der Kommissionspräsident oder der französische Präsident. Es war Dmitiri Medvedev, Präsident Russlands, der 2009 als erster ausländischer Würdenträger vor der serbischen Nationalversammlung sprach. Das ist ein Zeichen. Eine Mehrheit der Serben will nicht in die Nato, die das Land 1999 bombardiert hatte. Die serbischen Christen praktizieren die Orthodoxie, ähnlich den russischen. Und am 16. Oktober reist Wladimir Putin zu einem Kurztrip nach Belgrad, um der Befreiung der Stadt von den Nazis zu gedenken. Die Verbindungen zwischen den beiden slawischen Ländern Serbien und Russland sind eng.

Gleichzeitig will das Land Mitglied der EU werden. Seit 2009 brauchen Serben keine Visa mehr, wenn sie in den Schengen-Raum reisen.  2011 lieferte es die letzten, vom Haager Kriegsverbrechertribunal gesuchten Serben aus. Das schwierige Verhältnis zum Kosovo normalisiert sich in zwar kleinen, aber häufigen Schritten. Und seit Januar diesen Jahres verhandelt die EU offiziell mit dem Land über einen Beitritt.

Seit Beginn der Ukraine-Krise sitzt Serbien zwischen allen Stühlen – und darüber würde ich gerne für Krautreporter berichten. Ich reise in der dritten oder vierten Oktoberwoche in das Land. Natürlich gibt es ganz offensichtliche Stellen, an die ich mich wenden sollte, die Delegation der EU etwa oder das russische Kulturinstitut vor Ort.

Aber ich bin mir sicher, dass es auch noch Menschen und Orte gibt, die etwas über die Gratwanderung des Landes zwischen EU und RU erzählen können, aber mir nicht auf- oder einfallen würden.

Daher: Wenn ihr eine Idee oder einen Tipp habt, wen ich kontaktieren und sprechen soll,  meldet euch bitte bei mir. Egal, ob es das serbische Unternehmen ist, dass durch die EU-Sanktionen gegen Russland profitiert. Oder z.B. Serben, die, wie die  Tagesschau berichtet, auf Seiten der pro-russischen Separatisten in der Ukraine kämpfen.

Schreibt mir eine Mail, hinterlasst einen Kommentar oder sprecht mich auf Twitter an.

Danke!

 

A Walk Around The Park

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Marokko, in der Nacht

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Marokko, Juli 2014

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Saharataxi

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Als ich kürzlich in der Westsahara recherchiert habe, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben wilde Kamele. Sie überquerten die schmale, holprige Straße, die sich schnurgerade durch die Sahara zog. Manchmal fuhren wir darauf wie auf einem schmalen Deich. Denn links von uns brandete der weite menschenleere Atlantik an und rechts von uns das weite Meer der Sahara.

Freude

Schulkinder in den tibetischen Regionen Chinas, 2007

Warum ich bei Krautreporter mitmache

Rico Grimm, Krautreporter from Krautreporter on Vimeo.

1. Weil es so naheliegend ist, Journalismus nur durch die Leser zu finanzieren – und es trotzdem in Deutschland auf diesem Niveau noch nie ausprobiert wurde.

2. Dabei hätte dieses Modell Vorteile für Autoren und Leser. Weil wir Journalisten über Themen schreiben könnte, die wichtig und interessant sind, aber in anderen Medien nicht veröffentlicht werden konnten, etwa weil sie nicht aktuell genug waren, zu komplex oder schlicht das Geld in der Redaktion fehlte. Etwa solche Beiträge, die alle aus meinem Alltag stammen:

  • über einen Bundeswehroberst, der mit Verweis auf das Grundgesetz Befehle verweigert hatte, dafür vom Bundesverwaltungsgericht Recht bekam und seitdem nie wieder befördert wurde
  • über die ersten privaten Weltraumraketen der Geschichte – die aus Deutschland stammten, im Kongo getestet wurden und für ein geheimes Cruise-Missile-Programm der Bundesrepublik gehalten wurden
  • über die Boom-Region Irak-Kurdistan, der gerade sein erstes Fass Öl ausgeliefert hat (u.a. an Israel) und der Nukleus für einen eigenen kurdischen Staat werden könnte.

3. Weil ich noch weiter mit fotojournalistischen Formaten, etwa solchen kurzen FotoText-Porträts experimentieren will. Denn ich glaube, dass „Geschichte“ bedeutungslos ist, wenn wir nicht erzählen, wie einzelne Menschen an ihr teil haben – und ihr Leben von ihr geformt wird.

4. Weil ich kein schlechtes Gewissen mehr haben will, wenn ich einen Text für ein Online-Medium schreibe – ob der Selbst-Ausbeutung, die das mit sich bringt. (Zur Info: 180 € vor Steuern für zwei Tage Arbeit sind nicht unüblich.)

5. Weil nichts so befriedigend ist, wie ein gutes Gespräch. Und das würde ich gerne mit den Lesern von Krautreporter führen. Mein großes Vorbild dabei: Ta Nehisi-Coats vom US-Magazin The Atlantic, der eine Kommentarspalte mit einem Abendessen vergleicht, zu dem der Leser eingeladen wird.

6. Weil der Hashtag #longreads abgeschafft gehört. Schließlich sollten lange, hintergründige Texte online nichts Besonderes mehr sein.

7. Weil Krautreporter das beste Argument gegenüber Verlagsmenschen für mehr Investitionen und Experimente wäre. In allen Häusern.

8. Weil ich nicht oft in meinem Leben ein Magazin gründen könnte. Und ihr auch nicht! Also werdet Mitgründer: www.krautreporter.de

tibet, china, buddhismus, monk, sunglasses

Buddhistische Coolness

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Litang, China, 2007

Baumblüte

Ich war beim Baumblütenfest in Werder – und habe einmal vom Spezialgetränk probiert, dem Obstwein. Das war gut für den Text… oder auch nicht. Das entscheidet ihr –> http://www.zitty.de/baumblutenfest-in-werder.html

Weit schwimmen, lang fliegen

Drei Brüder streifen durch die Welt auf der Suche nach dem schönsten Ort der Erde und finden ihn nicht. Da treffen sie auf einem Hügel einen Wanderer: „Wo ist der schönste Ort?“, fragen sie ihn. Und er deutet wortlos auf den Horizont, an jene Stelle, an der sich Himmel und Meer vereinigen.
Die hungrigen Brüder fragen: „Wie gelangen wir dorthin?“ Und er antwortet: „Fliegen müsst ihr oder schwimmen!“ Und sie machen sich auf den Weg.
Sie schwimmen weit und fliegen lang und kommen doch nie an. Da kehren sie um und sagen zu dem Wanderer auf dem Hügel: „Wanderer, wir sind weit geschwommen und lang geflogen und haben ihn doch nie erreicht, den schönsten Ort.“
Und da sagt der Wanderer auf dem Hügel: „Das ist nicht möglich. Denn ich habe euch gesehen von hier oben, wie ihr geflogen seid und geschwommen. Ihr wart der Saum zwischen Himmel und Meer. Ihr wart genau dort, am schönsten Ort.“

Lykien, Türkei, Mai 2014

SW #147 – Akzentuiertes Denken

In Deutschland glauben wir: Wenn jemand mit Akzent spricht, dann denkt er mit Akzent.

Shermin Langhoff, Intendantin Maxim Gorki Theater, KulturSpiegel 4/2014

Das Ende der Welt

Carnarvon, Australien 2006

SW #146 – Besorgungen in der Postmoderne

Die ganze Welt besorgt’s sich gegenseitig – aber ich? Ich mache da nicht mit.

Ein Verkannter

Stars & Bucks

Markendemokratie in Ramallah – hier kann man einen Kaffee im Stars & Bucks trinken, ein Sandwich im Sub & Deli essen und sich hinterher bei Facebook Phone eine neue Handyhülle kaufen

(es gab auch ein iHouse; leider habe ich aber nicht mehr geschafft, es zu fotografieren)

SW #145

A maze and amazement go together, no?


Jorge Luis Borges

Indeed, they do.

Eine Hexe bei Jesus

Via Dolorosa, Jerusalem, 2014

Drama Ramallah

Ramallah, 2014

Ein großes Narrenwerk – Über „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace

Das Werk, das den Titel Unendlicher Spaß trägt, umfasst 1410 Seiten und 388 Fußnoten. Sein zentrales Thema ist die Sprachlosigkeit. Niemand würde zu viel riskieren, wenn er es deswegen für das Werk eines großen Narren hält, vermutlich auch für das größte Narrenwerk unserer Epoche.

Der Legende nach genossen die Narren an den Königshöfen des Mittelalters die Freiheit, jede Wahrheit ansprechen zu dürfen, solange sie in Witzen und Pointen gewandt daherkam. Der Narr konnte sich so ungeheure Anmaßungen König und Hofstaat gegenüber erlauben, weil niemand im Zweifel Ernst nehmen musste, was er sagte. Schließlich sei das alles ja nur ein Spaß gewesen. Ähnlich verhält es sich mit diesem Buch von David Foster Wallace. Es ist so dick, dass es potentielle Leser für einen schlechten Scherz halten wollen, und es nicht anrühren, obwohl es in diesem Buch tatsächlich einmal um etwas geht. Dieses Buch hat ein dringendes Anliegen, es will nicht einfach eine „gute Geschichte“ erzählen. Dringlichkeit ist selten geworden.

Foster Wallace berichtet in Unendlicher Spaß in lose verbundenen Episoden vom Da-Sein der Menschen von Boston, Massachusetts. Die Handlung war bei dessen Erscheinen 1996 leicht in die Zukunft versetzt. Die Interpreten sagen, dass die Geschichte hauptsächlich in den Jahren 2008 bis 2010 spielt. Wallace‘ zentrale Orte sind eine Tennisakademie auf einem Hügel und eine Suchtklinik am Fuß des Hügels. Es gibt unzählige Hauptfiguren. Aber die Wichtigsten sind: der 17-Jährige Hal Incandenza, Grammatikass und Tennis-Hoffnung, sein Vater Jim, der die Tennisakademie gegründet hatte, sich danach als Avantgarde-Filmer versuchte und schließlich Selbstmord beging, indem er seinen Kopf in die Mikrowelle steckte; Mario Incandenza, Bruder von Hal, kam schwer behindert zur Welt und war der Assistent von seinem Vater Jim. Zuletzt: Joelle van Dyne, Muse von Jim, so schön, dass sie entstellt ist. Sie trifft im Laufe des Buches Don Gately, einen Junkie, der sich durch Einbrüche seine Drogen finanziert und verliebt sich in ihn. Diese Auswahl ist bis zu einem gewissen Grad zufällig, da das Buch auf verschiedenen Ebenen gelesen werden kann und sich entsprechend auch die Bedeutung der Menschen darin ändert, ihnen ist aber gemein, dass sie die Eckpunkte eines Fünfecks sind, in dem sich die Bedeutung von Unendlicher Spaß kristallisiert.

Denn Hal leidet darunter, dass sein Vater Jim ihm so fremd war und sie kaum ein offenes Wort miteinander gesprochen hatten. Er wird süchtiger Kiffer. Sein Vater Jim litt auch darunter, wusste aber keinen Weg, er trank und begann Filme zu drehen, mit denen er seinen klugen Jungen Hal erreichen wollte. In einem dieser Filme ist die wunderschöne, rothaarige Joelle van Dyne Hauptfigur, sie tut darin nichts anderes als durch eine Drehtür zu gehen, aber jeder, der diesen Film zu Gesicht bekommt, verfällt ihm und wird zum sabbernden, stummen Kleinkind, das nur noch einen Wunsch kennt: den Film wieder zu schauen. Der Film ist die schlimmste Droge, die bisher erfunden wurde. Joelle selbst steht auf Kokain, das sie schließlich in eine Entzugsklinik führt, wo sie den Schmerztabletten-Junkie Don Gately trifft. Es gibt in dem ganzen Buch nur wenige Menschen, die nicht süchtig sind oder süchtig waren. Einer von ihnen ist Mario Incandenza, der ein großes Schloss um den Körper tragen muss, weil er sonst umfallen würde. Ausnahmslos jede Figur in Unendlicher Spaß ist deformiert, am Körper, im Geist, für David Foster Wallace scheint das keinen elementaren Unterschied zu machen. Für ihn scheint das die unabänderliche Begleiterscheinung menschlicher Existenz zu sein. Behinderung ist menschlich. Seltsam ist dann, das fast nichts, was diese behinderten Figuren tun, auch human ist. Dieser Widerspruch ist die wichtigste Plotlinie des ganzen Buches, sie bewegt sich nicht horizontal in der Zeit fortschreitend, sondern vertikal, immer tiefer hinein: Es ist der Graben zwischen der eigenen Anfälligkeit der Menschen und ihrer Härte nach außen.

Diesen Graben könnte die Sprache überwinden, wenn die Figuren in der Lage wären, sich klar und bedeutungsvoll auszudrücken. Sie lenken sich aber lieber ab, halten die Welt und ihre Gefühle von sich, mit allerhand Substanzen und eingebildet Substanziellem, mit Kokain, Schmerzmitteln, Valium, Speed, Marihuana, Jack Daniels, dem Spiel, Erfolg, und mit Ironie, der billigsten Droge, die einen Menschen seiner Welt entfremden kann. Die Ironie ist der Blinddarm der Massenunterhaltung, die alles Bedeutende in ihren Shows, Zeitschriften, Filmen vorführt, die Menschen verführt, und jeglichen Sinn dem Lacher opfert. Wir müssen von Da-Sein der Protagonisten sprechen, da ihnen zwar ständig ungeheure Dinge zustoßen, in diesem Buch aber nichts so erzählt wird, das den Vortrieb von Wörtern wie „Schicksal“ oder „Leben“ rechtfertigen würde. Erst gegen Ende verdichten sich die Ereignisse wie in einem guten Kriminalroman und Foster Wallace führt die Fäden wieder zusammen, die er vorher in wildem Kalkül im Raum verteilt hatte.

Er hat sein Werk dabei als ein Panoptikum angelegt, keiner der einzelnen Abschnitte scheint auf den zweiten Blick noch das zu bedeuten, was er auf den ersten Blick bedeutete – das, nicht sein Umfang, nicht die Fußnoten – macht dieses Buch zu so einer immensen Herausforderung. Denn Foster Wallace zwingt den Leser hinab in sein Spiegelkabinett, dort ist es düster, das Licht grau, die Spiegel sind stumm. Er verwirrt seine Leser ohne sie mit einer geradlinigen Handlungsfolge zu beruhigen, die ihnen vorgaukeln könnte, der Geschichte noch folgen zu können – wenn sie sie eigentlich schon längst nichts mehr verstehen. Im Westen kennen wir diese Verwirrung, es ist unser zentrale Erfahrung, wenn wir offenen Herzens und mit skeptischem Verstand der Welt begegnen: Es ist viel los, und nichts macht Sinn. Alles rast, blinkt, zerbricht, liebt, hupt, grölt, flüstert, küsst, schreit, schmerzt, langweilt in dieser Welt. Wir können nicht davon sprechen, also müssen wir davor fliehen und unsere Sinne betäuben. David Foster Wallace lehnte das ab.

Sein Werk Unendlicher Spaß ist der Versuch, davon zu sprechen, es ist der Versuch, dem ganzen großen Knacks, der diese Welt ist, eine Form zu geben und uns Menschen wieder zusammenzuschließen als fühlende Wesen, die nur aufhören müssten, sich abzulenken und den Blick heben, in die Augen und tiefer hinein schauen müssten, nicht in der Politik oder der Armee oder der Wirtschaft, das sind verlorene Gebiete, nein, auf TV-Sofas, in Café-Stühlen, auf Schulbänken, an Werktischen, in Parks voller Dealer und Mütter, auf dem Acker, dort müssten die Menschen wieder mutig genug sein, zu fühlen, und ja auch sentimental zu werden, und noch mutiger werden, auch davon zu sprechen, und am mutigsten werden, und handeln wie sie fühlen, mit Pathos und ganzer Leidenschaft, für die sie in der Öffentlichkeit belächelt werden würden, und, wenn man so jemanden sieht, müsste man einmal selber mutig sein und folgenden Versuch starten: denjenigen ernst nehmen und sehen, was dann passiert; ich glaube, man würde mehr sprechen und man würde vielleicht nicht glücklicher sterben, aber alles hätte mehr Sinn gehabt, das gibt uns David Foster Wallace mit, und mehr kann man nicht von einem Buch verlangen.

Und diese großen Worte sind mein voller Ernst.  ̶N̶̶a̶̶t̶̶ü̶̶r̶̶l̶̶i̶̶c̶̶h̶̶.̶

Weiterlesen:

SW #144 – Nur ein Fakt

In journalism just one fact that is false prejudices the entire work. In contrast, in fiction one single fact that is true gives legitimacy to the entire work.

Gabriel Garcia Marquez, The Art of Fiction No. 69, Paris Review

SW # 143 – Heine über Hamburg

Wahr ist es, es ist ein verludertes Kaufmannsnest hier. Huren genug, aber keine Musen

Heinrich Heine, 1816

SW #142 – Farbe der Badebekleidung

„Mein Mann“, sagte Pippa, „war nur ein Mal am Pool. Gerade lang genug, um die These aufzustellen, in dieser Generation ließen sich die Einkommensverhältnisse an den Farben der Badebekleidung ablesen.“

Was einer englischen Hochzeit in der tunesischen Wüste noch fehle, sei doch ein Schweizer Geschäftsmann im Kostüm eines Südstaatenjunkers.

Jonas Lüscher, „Frühling der Barbaren“

Gustav Mahler und Marteria

Als ich merkte, dass Mahler und Marteria mehr gemeinsam haben, als sagen wir mal Mahler und Brahms, wollte ich die Gardinen aufziehen, Licht ins Zimmer lassen und in die Welt schauen. Ich verstand sofort, warum ich diesen Wunsch spürte, denn diese sonderbare Paarung ergab sich während Marteria von Schlaftabletten rappte; ich verband das mit jener schwarzen Symphonie, die Mahler kurz vor seinem Tod komponierte, und war sehr glücklich über diese Entdeckung.

MAHLER

MARTERIA

Marteria – Veronal (Eine Tablette nur) (ft. Miss Platnum) from GermanDream on Vimeo.

Laufbilder

Das einzige schöne Juristenwort: Laufbilder. Sein häßlicher Zwilling: Laufbilderschutz.

SW #141 – There are more things

Um etwas zu sehen, muss man es verstehen. Der Sessel setzt den menschlichen Körper voraus, seine Gelenke und Gliedmaßen; die Schere die Tätigkeit des Schneidens. Was soll man von einer Lampe oder einem Wagen sagen= Der Wilde kann die Bibel eines Missionars nicht erkennen; der Passagier sieht nicht das gleiche Takelwerk wie die Matrosen. Wenn wir das Universum wirklich sähen, würden wir es vielleicht verstehen.

Jorge Luis Borges, „There are more things“ in Spiegel und Maske, Erzählungen 1970-1983

Welchen Unterschied ein Buchstabe macht

Manchmal babbeln die Menschen. Dann trinken sie Wein im Wirtshaus, und das ist gut. Manchmal babeln sie aber auch. Dann führen sie Krieg in der Welt.

SW #140 – Wer zuerst macht

Dem abgeklärten Buddha erscheint das Getriebene der Welt lächerlich, weil er selbst gar nichts mehr damit zu tun hat. Dem Zyniker erscheinen die Gefühle der Mitmenschen lächerlich, weil er selbst keine Gefühle mehr hat. Dem Nichtfußballer erscheint es lächerlich, stundenlang hinter einem kleinen Lederball hinterherzulaufen. […] Man könnte behaupten, dass das Lebende immer lächerlich ist, denn nur das Tote ist ganz und gar nicht lächerlich.

Fritz Zorn, via

SW #139 – Erzähleraxiom

Nur weil sie nicht echt ist, heißt das noch lange nicht, dass ich sie nicht fühlen kann.

Weinender Typ in Girls S03 E04 nachdem er erfährt, dass die Geschichte wegen der er gerade weint, nur erfunden ist

SW #138 – Am Saum des Morgens

Die Mystiker berufen sich auf eine Rose, einen Kuss, einen Vogel, der alle Vögel ist, eine Sonne, die jeglicher Stern und die Sonne ist, einen Krug Wein, einen Garten oder den Geschlechtsakt. Keine von diesen Metaphern taugt mir für jene lange Nacht des Jubels, die uns müde und glücklich am Saum des Morgens absetzte.

Jorge Luis Borges, „Der Kongress“ in Spiegel und Maske, Erzählungen 1970-1983

SW #137 – Hölle eines anderen Planeten

Möglicherweise ist diese Welt die Hölle eines anderen Planeten.

Aldous Huxley

Der erste Kriegsjournalist (Botentod)

Der erste Marathon-Läufer starb zweimal: Als er die Nachricht überbrachte und als sie seinen langen Lauf nach dem Ort der Schlacht benannten und nicht nach ihm.

(Der Läufer hieß Pheidippides. Gewissermaßen war er der erste Kriegsjournalist.)

SW #136 – Die perfekte Metapher für die NSA

Gerade habe ich in den Harvard-Vorlesungen des argentinischen Dichters Jorge Luis Borges die passendste Metapher für die Überwacher im Internet gefunden:

But I shall not grow too old to see
Enormous night arise,
A cloud that is larger than the world
And a monster made of eyes.

G.K. Chesterton (engl. Dichter) – A Second Childhood

Bemerkenswert: Es ist kein Monster mit (tausenden) Augen, sondern ein Monster aus Augen.

SW #135 – Was morgen ist

Was morgen ist, auch wenn es Sorge ist, ich sage: Ja!

Wolfgang Borchert

Buschbrand

Buschbrand irgendwo in Australien, 2006

„Nützlich“

Wie schon in den Jahrtausenden zuvor fragten sich auch die Denker der kapitalistischen Zeiten, was der Mensch sei. „Nützlich“, wählten sie fast einstimmig zu ihrer besten Antwort, die leider niemand vernahm. Denn die Menschen selbst waren beschäftigt: Sie grübelten über einen neuen Typ Zahnbürste.

Ein Junge auf dem Nachtmarkt von Darwin

a boy on the night market at mindil beach in darwin australia stands among toys

Australien, Oktober 2006

Im Berliner Gebet-Automaten

In der Moabiter Arminiusmarkthalle schiebt Bernd der Hausmeister eine Sackkarre an der kleinen Kabine vorbei, in der man auf 64 Sprachen das finden kann, was größer sein soll als jeder Mensch: das Göttliche. Bernd sieht wie Lisa, die Fotografin, und ich die Kabine neugierig betrachten. Er sagt: „Die könnt ihr mitnehmen, die ist großer Müll.“ Er würde uns auch seine Sackkarre zu diesem Zweck überlassen.

Die Kabine heißt offiziell „Gebetomat“. In ihr kann man sich 300 Gebete aus Dutzenden Religionen anhören – und sie soll der kleinste spirituelle Raum sein, ein Platz, um an Bahnhöfen, in Kaufhäusern oder Parks in sich zu kehren.

„Weißt du, was am Besten wäre?“, fragt Bernd mich. „Wenn mal einer eine Nummer da drin schieben würde und jemand ein Foto davon macht, das sie dann in der Bild-Zeitung bringen… Ruck-Zuck wäre das Ding weg.“ Bernd scheint nicht viel vom Göttlichen zu halten. Ich verstehe nicht ganz, warum. Denn die Kabine stört eigentlich niemanden, wie sie da unter den drei spitz zusammen laufenden Fenstern im Seitenschiff der Markthalle steht. Aber Bernd ist wohl einfach ein echter Berliner.

Berlin ist die Kapitale der Gottlosen

Denn in dieser Stadt geht man aus, aber kehrt nirgendwo ein. Die Moderne und der real existierende Sozialismus haben hier ganze Arbeit geleistet: In der Erinnnerung der Menschen wird es für lange Zeit keine Stadt auf Erden mehr geben, in der so wenig gebetet wurde wie in Berlin nach dem Mauerfall. Es ist die Kapitale der Gottlosen. Nur langsam, und kaum bemerkbar schiebt sich das Religiöse in Form von zeitgeistigen Freikirchen wieder in die Mitte der Gesellschaft.

Ich aber schiebe mich jetzt erst einmal in den Gebetomat, der einem Fotoautomat ähnelt. Darin: Ein kleiner Hocker, vor mir ein berührungsempfindlicher Bildschirm, auf dem ich auswählen kann, was über die zwei Lautsprecher erklingen soll. Ich ziehe den Vorhang zu. Er schottet mich nur leidlich von der lärmenden Markthalle ab. Ich wähle ein buddhistisches Gebet aus Tibet. Es heißt: „Until Supreme Illumination“. Murmelnde Männerstimmen erklingen, werden immer lauter, ganz sachte, vor meinen Augen sehe ich den blauesten Himmel, graue Berge und gelbe Felder, ich sehe den Himalaya und die Markthalle lärmt nicht mehr. Als das Gebet zu Ende ist brauche ich einen Moment, um mich wieder zu besinnen.

Weiter geht es mit einem hinduistischen Gebet. Aber das schalte ich nach ein paar Minuten wieder ab, es nervt. Bei ein Requiem zu Ehren des toten Papst Johannes Paul II. kann ich mir den Priester, der das Gebet spricht, vorstellen: er ist alt und rigide. Sein Gebet ist schwülstig. Erst ein gesungenes Gebet russisch-orthodoxer Christen zieht mich wieder aus meiner ziemlich weltlichen Nörgelei in den Raum der Heiligkeit. Dieses Gebet höre ich bis zum Ende und denke dabei an gar nichts, sondern bin einfach bei mir, und das ist, glaube ich, sowieso der Zweck der Einkehr, und nicht ein Kurztrip in den Himalaya.

Der Hausmeister sagt über den Gebet-Automaten: „Diese Kiste klaut noch nicht einmal einer.“

Der Gebetomat funktioniert also. Aber er hat ein entscheidendes Problem: Wenn man bereit ist zur Einkehr, und Entspannung sucht, wird man sich nicht in eine enge Kabine mit Stahlwänden setzen, man wird in die Kirche gehen, am Fluss Musik hören, wird im Park dösen, im Atelier malen oder auf einem Feld Wolken beobachten. Und wenn man nicht bereit ist dazu, wird man einfach wie Bernd der Hausmeister an dem Gebetomat vorbeigehen, gerne auch mehrmals am Tag, mit Sackkarre oder ohne, und wird jedes Mal leise vor sich hinfluchen: „Diese Kiste klaut noch nicht mal einer.“

Dieser Text entstand für Zitty, 02/2014.  Die Fotos stammen von Lisa Wassmann.

Dilemma des 21. Jahrhundert

Das Dilemma des 21. Jahrhundert lässt sich in einfachen Worten beschreiben: überall Aktien- und Filter-, aber ganz generell zu wenig Seifenblasen.

Evolution

Meine Evolution: Stehend sehen, gehend denken, sitzend schreiben.

Mein Wunsch: Liegend sterben.

Schreibtischarbeit

Manchmal kommt es mir so vor, als bräuchte der moderne Arbeiter nur einen Skill: aufrecht gehen auch nach 40 Jahren Schreibtischarbeit.

SW #134 – Evil

Evil, above all evil on the scale practiced by Nazi Germany, can never be satisfactorily remembered. The very enormity of the crime renders all memorialisation incomplete. Its inherent implausibility—the sheer difficulty of conceiving of it in calm retrospect—opens the door to diminution and even denial. Impossible to remember as it truly was, it is inherently vulnerable to being remembered as it wasn’t.

Tony Judt, Postwar (Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegewart) via Ta-Nehisi Coates

porträt teju cole, autor, usa, nigeria, roman open city

Teju Cole: „Open City“ (und der Groove)

porträt teju cole, autor, usa, nigeria, roman open city
Teju Cole

Ich habe lange nicht verstanden, was es bedeuten soll, wenn ein Text „Rhythmus“ hat. Eine Sprach-Melodie ergibt sich aus Wortwahl, Tonlage, Satzlänge, klar. Aber einem ganzen Buch einen bestimmten Takt zusprechen zu wollen, hielt ich für vermessen – bis ich Teju Coles‘ „Open City“ gelesen hatte.

Denn dieses Buch groovt. Was daran liegen kann, dass darin einer durchweg läuft, durch die Straßen von New York und Brüssel, durch die Kultur Europas und die amerikanische Rassen-Gegenwart, durch Mahlers 9. Symphonie und die Trümmer des 11. September 2001. Und ein guter Groove ist genau das: beweglich, aber schwer und erhaben.

Genauer: Groove ist, wenn der Takt allein schon ein Gefühl ist; und in diesem Roman schwingt jedes Kapitel einer rein essayistischen Pointe zu und gibt so einen besonnenen Takt vor, das Klopfen der Einfälle. Der Leser fühlt sich ruhig dabei.

Was man nicht liken kann

Die Vielzahl von Verkäufern, Beschwörern und Theatralikproduzenten in den Bars unserer Städte, in den WGs unserer Freunde und den Köpfen unserer Lieben macht die ständige Beobachtung des wandernden Herzens unnötig. Denn ein Mensch, der heute sein Herz auf dem rechten Fleck tragen will, muss es einfach auf der Zuge tragen. Schließlich gibt es nichts Ehrlicheres als ein offenes „Ich hasse dich“. Das kann man nicht liken.

camera of Molhem Barakat, freelance photographer with reuters news agency in syria, blood stained

Molhem Barakat

camera of Molhem Barakat, freelance photographer with reuters news agency in syria, blood stained

Molhem Baraka war erst 17 Jahre alt und schon freiberuflicher Fotograf für Reuters in Syrien. Er starb vergangenen Freitag in Aleppo. Das sind seine Kameras.

Das Bild lässt mich nicht los.

Mein Kollege Benjamin Hiller hat auf meiner Facebook-Seite noch ein paar wichtige Fragen zur Rolle von Reuters aufgeworfen:

Jemanden von vor Ort, welcher allem Anschein nach weder Schutzweste noch Helm bekommen hat, und dazu noch Minderjährig ist, als „Stringer/Bilderlieferanten“ anzuheuern – und dabei zur gleichen Zeit sehr erfahrene Journalisten nicht mehr in diese Gebiete aus Sicherheitsgründe schickt bzw. sogar deren Fotos nicht mehr erwirbt. Hier liegt schon eine gewissen „Doppelzüngigkeit“ der Pressestandards vor

Weiterlesen: More Questions For Reuters About The Death Of Molhem Barakat, Teenage War Photographer

Nachrichten

Das Paradoxe an Nachrichten ist doch, dass wir aufhören, uns eine Vorstellung davon zu machen, was in der Welt geschieht, sobald wir uns von ihnen informieren lassen.