SW #133 – Ach München

Ach München. Wo sie das weltberühmte Uli Hoeness Augensalz gewinnen. Wo die 5-Euroschnitzel größer als der Durschnitts-Neuköllner geraten. Und wo Plakate Matrazen für 7000 Euro anpreisen. Ich kann nicht sagen,dass ich dich vermisst hätte München. Aber mit etwas Abstand kann ich wieder über deine Witze lachen.

Dhema IndusTree

Life of a young family

Life of a young family in three words: His story. Her story. Toy story.

Der Hitchens in uns – was Englands größter Polemiker den Digital Natives lehren kann

Vor zwei Jahren starb der britisch-amerikanische Journalist Christopher Hitchens. Er war ein großer Polemiker, Buch-Fanatiker und hat nie getwittert. Genau deswegen kann er den Digital Natives viel lehren. Eine Handreichung in 5 Punkten. „Der Hitchens in uns – was Englands größter Polemiker den Digital Natives lehren kann“ weiterlesen

Expedition

War gestern am Ku’damm und habe da einen neuen Typ Mensch entdeckt: das Charlottenbürgersöhnchen.

Hitler-Humor und Produktivtät

Wäre ich Hitler-Parodist müsste ich mir in exakt dieser Silbenfolge das Wort „Produktivität“ ausdenken. Denn wie da die ersten beiden Silben zusammenknallen wie die Hacken auf dem Reichsparteitagsgelände, und die dritte und vierte Silbe ehrfürchtig kurz sind und die fünfte hinausgeplärrt wird wie ein Befehl im Wind, da liegt ja der Gedanke nahe, dass es zwischen Silbenfolge, Wortbedeutung und Klang eine Verbindung gibt, die nicht nur oberflächlich und zufällig ist – gerade nicht in unseren Zeiten. Und etwas besseres kann ein Parodist nicht finden als ein Wort, mit dem er zwei Sachen gleichzeitig verspotten kann, die so sehr des Spotts bedürfen.

Goldwaldsänger

Wenn ein Text zu schwerfällig daherkommt, muss man über Vögel schreiben, über Pfeifenten, Wiesenstrandläufer, Graukopfvireos, Goldwaldsänger und Weißkehlammern. Dann beginnt der Text ganz von allein zu hüpfen.

SW #132 – Wirkliche Komik

So gut wie alles – gegen den Welthunger protestieren, mit Wörtern wir „bumsen“ Lacher ernten, Weisheiten verkünden, sterben – ist leichter als wirkliche Komik.

Und wenn ich selbst noch vollständiger zum Comic werden würde: was wäre das erst für ein Sieg.

Jonathan Franzen, „Zwei Ponys“

Ein Band Gedichte

Schwere Stiefel, Bart und ein Band Gedichte.

Klimaflüchtlinge

In den Ländern des Nordens gibt es einen Schlag Menschen, der immerzu vom Süden schwärmt, von dem Licht, der Offenheit und den Menschen, von weißen Zähnen, schwarzen Haaren, scharfem Essen. Diese Menschen lieben es, niemals frieren zu müssen.

Die gleichen Menschen richten zu Hause kaum ein offenes Wort an jemanden und erwidern nur das Lächeln der geschäftigen und der betörenden Menschen. Diese Menschen lieben den Schweiß, diesen ewigen Begleiter im Süden. Sie sehen in ihm ein Zeichen ihrer Lebendigkeit, und nur so kennen sie die Wärme: als Hitze, die sie übermannt. Etwas anderes könnten sie nicht zulassen, heranlassen, und darin liegt ihre Tragödie; dass sie die offenkundige Wärme des Südens mit einer Zuneigung verwechseln, die schon lange nicht mehr ihn ihnen selbst wohnt.

Gäbe es einmal einen langen Winter im Süden, glänzten die Zähne immer noch weiß, wäre das dichte Haar immer noch schwarz, und die Klimaflüchtlinge aus dem Norden würden zwischen Schneeflocken schwitzen und sie würden merken, dass ihr Schweiß kalt war, von Anfang an.

Das war’s auch schon

Warum Bukowski und Thompson öfter mal in Bars gepriesen werden? In ihren Arbeiten wird gesoffen, gehurt und gekokst. Das war’s auch schon.

Und das Prinzenpaar bleibt bis zum Schluss – Beim Seniorenfasching

Wenn wir 13 Jahre alt sind und es uns gelingt, uns den Weg in die Clubs zu lügen, dann schauen wir auf die Älteren, die nicht lügen mussten, um hereinzukommen und zwischen uns und ihnen liegen nur wenige Jahre und doch eine ganze Welt. Wenn wir 18 Jahre alt sind und nicht mehr lügen müssen und neuerdings in die angesagten Clubs gehen, dann sehen wir 30-Jährige und es ist etwas merkwürdig, denn zwischen uns und ihnen liegt noch eine ganze Generation. Wenn wir aber 70 Jahre alt sind, und zu einem Fasching gehen, dann treffen wir dort 87-Jährige und wir sind alle gleich, denn das Altern ist ein großer Befreier, das uns aus den Befangenheiten des Alltags löst.

So treffen sich die Herrschaften an einem Wochentag zum Seniorenfasching im Gemeinschaftshaus der Gropiusstadt zwischen grauen und nicht ganz so grauen Wohnhäusern. Sie haben sich für 15 Uhr verabredet, natürlich, denn das Altern nimmt uns auch die Pflicht immerzu strebsam und nüchtern zu sein, wenn die anderen in ihren Büros und Ämtern und Läden auch noch strebsam und nüchtern sind.

Vielleicht 100 Gäste sitzen an mehreren Tischreihen in diesem Haus, das eigentlich eine Halle ist. Um die Tische kreisen ein paar Mitglieder der Garde, die nachher mit Tamtam in den Saal einziehen werden. Sie schreiten in kleinen Grüppchen stolz auf und ab. Glöckchen an ihren Hüten bimmeln, Strass auf ihren Jacken glitzert und die Kümmerling-Flaschen klacken, wenn sie mit ihren Freunden anstoßen.

In den Winkeln und an den Wändern dieser kahlen Multifunktionshalle hängen große Papiersterne. Sie sind regenbogenfarben und gegenüber der Bühne lachen Masken. Statt Haaren kraulen sich Luftschlangen von ihrem Scheitel herab und auf der Bühne steht unter den Licht-Strahlern das Eberhard-Müller-Duo, das singen kann, aber manche Ton-Höhen nicht trifft.

Die Präsidentin der Garde, Frau Margot Hofmann, tritt an den Tisch der Ehrenamtlichen, die mittags die Sterne und die Masken aus dem Lager herangeschafft hatten. Sie bedankt sich mit einem feisten Lächeln und am Revers ihres Jacketts hat sie neun Anstecker von anderen Vereinen der Stadt hängen, neun allein aus diesem Jahr. Frau Hofmann warnt schon einmal, dass das Programm bis zur ersten Tanzpause noch etwas langweilig werde, weil es ja so schwer sei alle Leute zu kriegen, die seien ja alle berufstätig. Aber das Prinzenpaar, sagt Frau Hofmann, das bleibe wohl bis zum Schluss.

Die Herrschaften in der Halle finden es dabei nicht so schlimm, dass es Donnerstag ist und dass es etwas langweilig werden könnte und dass die Musiker nicht alle Töne treffen, sie streichen ihre Blusen glatt und straffen ihre Hemden. Sie fassen ihre Lieben an der Hand und schlängeln sich zwischen den Stühlen hindurch zur Tanzfläche, keiner beäugt sie dabei und dann tanzen sie, rot, rot, rot sind die Rosen, ganz langsam drehen sie sich umeinander und es werden immer mehr Paare. Alle kreisen um einen Mittelpunkt, den nur sie kennen und draußen zwischen den grauen Wohnhäusern kommen die Leute von der Arbeit heim und das Prinzenpaar, das bleibt bis zum Schluss.

Dieser Text erschien in Zitty, Ausgabe 25, in der Reihe: „Wir sind viele“, leicht verändert.

Anzüge zum Marschieren

Was die europäische Krise so verwirrend macht: Wenn ein junger Deutscher sich heute seine Stiefel eng und fest schnürt und seinen Rucksack packt, dann fragen sich die Anderen schlicht: Wohin will er wandern? Wenn er aber einen Anzug anlegt, seine pomadierten Schuhe bindet und sich einen Aktenkoffer greift, dann zittert der Kontinent: Wohin will er marschieren?

SW #131 – Am Frühstücksbuffet

Am herrlichsten zeigt sich die menschliche Hilflosigkeit am Frühstücksbuffet.

Thomas Meyer, „Oktober-Liste“

Jobwunder

In Deutschland müssen Jobwunder keine Menschen mehr ernähren. Diese Anforderung wurde mit einem amtlichen Federstrich als Teil eines neuen Maßnahmenpakets zum Bürokratieabbau abgeschafft. Regierungs-Schreiben, die Mitteilung von diesem Erfolg der Wirtschaftsförderung machen, wurden in den Redaktionen der Republik aufmerksam zur Kenntnis genommen und das entsprechende Vokabular bereits aktualisiert (Vgl. Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung vom 27.11.2013). Für die Regierung der BRD muss diese Maßnahme also als ein doppelter Erfolg angesehen werden. Wenn man die eingesparten Opportunitätskosten im Vergleich zu den alten Anforderungen betrachtet, entsteht eine Win-Win-Situation für Staat und Bürger. Im Lichte dieses Ergebnisses ist eine Durchführung dieser Maßnahme auch in den Ländern Südeuropas angezeigt.

SW #130 – Völlig andere Ordnung

Auch das ist ein Paradox, dass viele der wichtigsten Eindrücke und Gedanken im Leben eines Menschen ihm so schnell durch den Kopf schießen, dass schnell nicht einmal das richtige Wort ist, sie scheinen von völlig anderer Ordnung zu sein oder außerhalb der regulären und sequentiellen Uhrenzeit zu existieren, an die wir uns sonst halten und sie scheinen so wenige Bezüge zu dem linearen Wort-für-Wort-Englisch zu haben, mit dessen Hilfe wir alle miteinander kommunizieren, dass es ohne weiteres ein ganzes Leben dauern könnte, die Gedankenblitze und -vernetzungen auch nur eines Sekundenbruchteils auszubuchstabieren usw.

David Foster Wallace, „Neon in alter Vertrautheit“ (Erzählung)

Wir waren perfekt, mit nur einem Makel

Sie berechneten, was unserem Geist zugeführt werden muss und prüften die Lehrer und ihre Bücher und sie legten uns eine Liste vor: „Das sind die besten Universitäten des Landes.“ Dort formte man uns zu Einkäufern der Liebe, Ingenieuren von Freundschaften und Werbefachmännern der Seele. Wir gingen ab und waren geschult für diese Welt, waren die Besten und Klügsten, sie hatten sich einen neuen Menschen erschaffen; und wir produzierten, justierten, bilanzierten, wir waren perfekt, mit nur einem Makel: Wir weigerten uns beharrlich, Kinder zu bekommen.

(In den Nachrichten heißt es: „Deutschland gehört zu den zwölf EU-Mitgliedstaaten, in denen im Jahr 2012 mehr Menschen starben als lebend geboren wurden.“)

SW #129

Der Tod wird in diesem Dorf gemästet.

Ein herrenloser Esel suchte unter dem Vordach des ländlichen Hauses Schutz vor dem Regen und schlug die ganze Nacht mit den Hufen gegen die Schlafzimmerwand.

Gabriel García Márquez, Die böse Stunde

SW #128 – Druck

Insanity laughs under pressure we’re cracking
Can’t we give ourselves one more chance
Why can’t we give love that one more chance
Why can’t we give love give love give love give love
give love give love give love give love give love
‚Cause love’s such an old fashioned word
And love dares you to care for
The people on the edge of the Night
And love dares you to change our way of
Caring about ourselves
This is our last dance
This is our last dance
This is ourselves
Under pressure
Under pressure
Pressure

Freddie Mercury, David Bowie

Parataxe, Hypotaxe

Parataxe oder Hypotaxe – das ist keine Frage der Grammatik, das ist eine Frage der Weltsicht, ich habe mich da längst entschieden.

Demnächst

Autor Rico Grimm Kategorie meta

Schwarz-Weiß-Rotes Nationaltrikot – kann man ja mal machen

Das kann man machen: Man kann das neue Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft in jenen Farben halten, mit denen schon die Truppen des Norddeutschen Bundes 1870 die Franzosen bei Sedan schlugen, und die Sturmgeschütze des Kaisers beflaggt waren als sie in den Gräben an der Marne aufgehalten wurden und in jenen Farben, die das Reichsflaggengesetz vom 15. September 1935 als die Reichsfarben definierte. Schwarz-Weiß-Rot, das kann man natürlich machen, weil da ist ja noch dieser schmale golden-silbrige Streif auf der Brust, man muss aber eigentlich sagen: am Horizont. Und überhaupt, da ist ja nichts dabei. Es ist ja nur Fußball, so wie der Elfmeter von Andy Brehme 1990 einfach nur irgendein Elfmeter war und die WM 2006 einfach nur irgendein Sportereignis in Deutschland. Dann kann man das ja machen.

Bildquelle: DFB/adidas

SW# 126 – Was rettet die Welt

Jemand hat etwas an die Wand geschrieben, die Buchstaben hell und blau,
kein Regen, keine Sonne, kein Wind in weißen Segeln.
Da steht: Was rettet die Welt?

Die Gleichheit im Gleichschritt der Sozialisten,
Imperialisten marschieren,
marschieren, produzieren, ich lese:
Was rettet die Welt?

Auf einem kleinen, roten Blatt in der Pfütze, einem Zettel am Baum,
am Bahnhof auf der Tafel in brüchigen Farben, auch hier nur:
Was rettet die Welt?

Nicht das Reden, nicht das Schweigen, nicht das Hören, nicht das Sehen,
nicht Konfuzianismus, Narzissmus, Kommunismus,
-ismus, -ismus.

Da steht auf der Platakwand vom Regen erweicht, vom Wind zerrissen:
-ismus, -ismus.

Doch:
Was rettet die Welt?

Kein Toben, kein Beben, kein Licht, kein Wasser, ein Schatten,
im Schatten ein Mann, eine Frau.

Im Schatten ein Mann, eine Frau,
Was rettet uns?

Katrin Sass, „Was rettet die Welt“ aus CD „Königskinder“

SW #125

„Dir fehlt es eben an Charakter“, sagte sie sofort. „Du gehst hin, als wolltest du um ein Almosen betteln, statt mit erhobenem Kopf aufzutreten, menem Gevatter beiseite zu rufen und zu sagen: ‚Gevatter, ich habe beschlossen, Ihnen meinen Hahn zu verkaufen.'“

„So wäre das Leben reine Angeberei“, sagte der Oberst.

– Gabriel García Márquez, „Der Oberst hat niemanden, der ihm schreibt“

Fouad der Schweißer – Zaatari Flüchtlingslager – III

September 2013

SW #124 – Hüte tragen

Ich trage keinen Hut, damit ich ihn vor niemandem ziehen muss.

SW #123

Vor ihr, seinen ausgeruhten Hunger schürend, thronte der alte Jakob, ein Mann, der sie so sehr und seit so langer Zeit liebte, dass er sich kein Leiden vorstellen konnte, das seinen Ursprung nicht in seiner Frau gehabt hätte.

– Gabriel García Márquez, „Das Meer der verlorenen Zeit“

SW #122

Wirtschaft ist Gesellschaft, in der Tat. Meine Stammkneipe ist zum Beispiel immer sehr voll.

Alexander Tetzlaff, Capital 11/2013

Zaatari – Flüchtlingslager – II

Kinder im Zaatari Flüchtlingslager für Syrer, Nord-Jordanien, September 2013

#SW 121

 In politics, as in religion, it is equally absurd to aim at making proselytes by fire and sword.

Alexander Hamilton, The Federalist Papers No. 1

META: Kleiner Umbau

Zu den Zeiten als man Bücher noch nicht tausendfach in die Tasche stecken konnte, habe ich angefangen, mir Zitate und Sprüche und schöne Formulierungen aus Büchern in meine Notizbücher zu übertragen, um sie einmal an geeigneter Stelle verwenden zu können. War mühsam – und vergebens. Denn die Zitate habe ich natürlich nicht wiederfinden können. Deswegen habe ich sie online gepostet und dann half mir Google dabei sie wiederzufinden. Bisher lief das auf Tumblr, dort läuft es auch weiter, aber ich habe mich entschieden, die Zitate auch hier zu posten unter der Kategorie „Simple Wahrheiten“. Sie sind gutes, kleines Gedankenfutter, ihr seht, was ich gerade so lese und sie sind oft auch Lektüretipp.  Rechts im Kasten wird immer ein Zitat aus der Reihe vorgestellt.

Immer wieder gerne lese ich etwa Esther Kinskys Beschreibung einer Kreuzung im Banat oder John Jeremiah Sullivans Elogie auf unsere Recherchemethoden

Autor Rico Grimm Kategorie meta

Selbstzerstörung im Autopilot – 5 Zeichen, dass die US-Macht gerade implodiert

Viel Tinte wurde schon verbraucht, um den vermeintlichen Abstieg der USA zu beschreiben. Viele Analysen stützten sich dabei auf das Unvermeidliche: den Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens. Die USA verlierten ihre Macht relativ zu anderen Ländern, nicht absolut. Im Moment ändert sich das. Die Vereinigten Staaten büßen an substantieller Kraft ein. Das ist nicht unvermeidlich, das ist ein hausgemachtes Problem. „Selbstzerstörung im Autopilot – 5 Zeichen, dass die US-Macht gerade implodiert“ weiterlesen

Was aus dem Führer der freien Welt geworden ist

Name der US-Präsidenten während des Kalten Krieges:

Führer Der Freien Welt

Name nach dem Irak-Krieg, Guantanamo und dem NSA-Skandal:

Führer Der

Nach dem Government Shutdown:

Der

Photo: Wikipedia; hier könnt ihr ein png dieses Posts herunterladen.

SW #120

Die Waffen für zwei Weltkriege geliefert, nie eine Wahl gehabt, unter die Erde und in die Gluthitze der Hochöfen gezwungen, beide Kriege verloren, Millionen von Menschen getötet. Und nie, nie, niemals durftest du darüber reden. Sonst kriegst du auf die Fresse. Ich sag’ mal so: Aufrechter Gang geht anders. Wer das Ruhrgebiet verstehen will, muß sich mit diesem sehr komplexen, vielschichtigen, zähen Gefühl auseinandersetzen: Scham. Und er muß damit rechnen, dass er dafür auf die Fresse kriegt.

„Ruhrgebiet inszenieren!“ von Michael-Walter Erdmann, Lettre International

SW #119

Wäre das Land vernünftig statt sentimental, würde es aufhören, sich etwas vorzumachen. Es würde sich als das begreifen und benennen, was es ist: eine Klassengesellschaft.

Katja Kullmann, „Im kalten Nebel“

zaatari, kid, horizon, refugee camp, clouds,

Zaatari – Flüchtlingslager – I

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Zaatari Flüchtlingslager, Jordan, September 2013

SW #118

Wir versuchen eine vernünftige Zeitung zu machen, aber weil die Welt absurd ist, wird das scheitern.

Pascal Pia, Herausgeber von Combat, der Zeitung der französischen Resistance

grandma

Oma

grandma

Oma, Amsterdam, Oktober 2013

SW #117

Hier lebt ein freier Mensch. Niemand schuldet ihm etwas.

Albert Camus & René Char, “La Postérité du soleil”, 1986

SW #116

To grasp what is happening, we must set aside a number of deep-rooted prejudices. The first of these is the assumption that democracy presupposes secularisation. The second is the idea that a democrat is, by definition, also a liberal. Historically, this has not been the case. The American Founding Fathers were not secularists; for them, the separation of church and state was a way of protecting religion from government, not the reverse. The French Third Republic was established in 1871 by a predo­minantly conservative, Catholic, monarchist parliament that had just crushed the Paris Commune.

Oliver Roy

Orthodox Jews watch IDF soldiers during their oath ceremony on Western Wall Plaza, Jerusalem, in March 2013

Wieder in Jerusalem

Orthodox Jews watch IDF soldiers during their oath ceremony on Western Wall Plaza, Jerusalem, in March 2013

Wenn die Bärte länger, die Hüte eigenartiger, die Gewehre größer und die Kuppeln goldener werden, wenn die Gassen enger, die Straßenbahnen voller, die Mitbewohner französischer und die Steine weißer werden, wenn Hügel sanfter rollen, Taxifahrer lauter schimpfen und die Sonne klarer scheint, dann weißt du, dass du wieder in Jerusalem bist. Hallo!

Kommen Sie gut hier raus – Ansichten eines jungen Wählers

Werte Herren und Damen!

In den letzten Jahren ist es unter Ihresgleichen hip geworden, junge Menschen wie mich zu beschimpfen: saturiert sei ich, langweilig, unpolitisch, so viel pragmatischer als die Ältesten der Alten, so viel schlechter als Sie.

Es ist Wahlwochende und ich antworte ihnen heute auf diese Vorwürfe. Ich brauche gar nicht besonders originell zu sein, denn alles, was ich gleich sagen werde, werden Sie sowieso zum ersten Mal hören – obwohl ich schon öfter versucht habe, mich zu erklären.

Bitte verzeihen Sie übrigens diese Schnippigkeit. Es ist nur so: Sie leben in ihrer Welt da oben und aus der luftigen Höhe, so scheint es mir, sind wir Jungen unten auf der Straße manchmal schwer zu verstehen. Also begreifen Sie meine Rede als Chance. Auch ohne Hörgerät können Sie heute einmal mitbekommen, was Ihre Kinder und Enkel eigentlich denken. Aber es bleibt Ihre Entscheidung. Sie können auch gehen und, wenn wir dran sind, die Welt zu bebauen, werden Sie sich umschauen und die Heimat suchen in diesem neuen Land, das Sie nicht kommen sahen.

Sie also, meine Damen und Herren, bezeichnen mich als unpolitisch, als langweilig, als jungen Menschen, der nicht für seine Ideale kämpft. Ach, Sie werden sogar noch unverschämter: Sie sagen, dass ich überhaupt keine Ideale mehr hätte, ganz anders als Sie natürlich. Denn als Sie jung waren, da haben Sie sich jedes Wochenende im orangen Schein der brennenden Barrikaden aufs Neue überlegt, wie Sie heute die Welt retten werden. Ich ginge ja kaum alle vier Jahre wählen, sagen Sie. Und als wäre das alles nicht anmaßend genug, werfen Sie mich in einen Kessel mit meinen Freunden, rühren einmal kräftig und bezeichnen das undefinierbare Etwas, zu dem wir in diesem Kessel verschmelzen, als “Generation Y” oder “Generation Narzissmus”.

Ja, Sie, meine Damen und Herren, sind so gut darin, dass inzwischen schon wir selbst anfangen, uns solche albernen Schilder auf die Stirn zu packen als wäre unser Leben ein langes “Wer-bin-ich-Spiel”. Es war einer von uns, der uns die “Generation Maybe” nannte. Ausgangspunkt dieser Scharlatanerie war übrigens eine Werbung von Marlboro. Generationbeschreibung durch Zigarettenwerbung!

Irre sind Sie doch. Ihr kritisiert uns? Ihr habt uns doch groß gezogen!

Sie, meine Damen und Herren, tun aber so als hätte sich die Welt nicht weitergedreht, als wären Mauerfall, Breaking Bad, China-Aufstieg, Internetentwicklung, MDMA, Piratenpartei und Yes-We-Can niemals passiert. Erkennen Sie doch einmal an, dass wir nicht mehr damit rechnen müssen, dass bald sowjetische Panzerverbände über die norddeutsche Tiefebene gen Paris vorstoßen, dass das Bild vom großen, heiligen Westen im Kalten Krieg ja ganz nützlich war, aber jetzt nichts mehr taugt. Hier Demokratie, dort Kommunismus, hier Kapitalismus, dort Planwirtschaft, Freiheit versus Folter. Vietnamkrieg, Che Guevara und das Nixon-Arschloch. Meine Damen und Herren! Solche Entscheidungen hätte auch jeder von uns aus der – ich sage es gern nochmal, weil dumme Dinge sollte man wiederholen, um die Peinlichkeit für den Urheber maximal zu vergrößern – solche Entscheidungen hätte auch jeder von uns aus der “Generation Maybe” treffen können.

Wie pflegten Sie zu solchen Dingen früher zu sagen: „Das ist ja keine Raketenwissenschaft.“ Es sagt übrigens sehr viel aus, dass gerade der Bau von Raketen bei Ihnen als Metapher für etwas richtig Kompliziertes herhalten musste.

Und wenn Sie jetzt nicken, weil Sie damals auch jung waren, aber Krawatte und Hut statt buntes Indienband und Blume trugen, weil Sie dieser ganzen linken Sache nichts abgewinnen konnten und die Junge Union nett fanden, weil man bei den Veranstaltungen der Union jungen Damen frisch und frei seine Tanzkarte anbieten konnte – dann hören Sie sofort auf zu nicken. Sie sind nur die andere Seite der gleichen, abgegriffenen Medaille.

Fragen Sie sich lieber einmal: China oder Brasilien? Indien oder Multikulti-Amerika? Mehr Europa oder Kiezromantik? Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. Und die wir jeden Tag beantworten wollen.

Sie bekommen das bloß nicht mit, weil Sie ihren Kopf in alte Fotoalben versenkt haben und von der guten alten Zeit träumen, die doch eh immer nur einen Punkt in der Vergangenheit definiert, der niemals existiert hat.

Es ist ganz einfach: Sie glauben, dass wir unpolitisch wären, weil Sie unsere Politik nicht verstehen. Sie stellen die falschen Fragen in ihren Ferndeutungsorgien. “Euro-Krise, Klimawandel, NSA – warum geht ihr eigentlich nicht demonstrieren?”, fragen Sie oder Ihre willfährigen Schreiberlinge. Und dann kommen Philister und Zeitdeuter auf die großartigsten Theorien, um das zu erklären und die wirkliche, echte, richtige Antwort, die kennt Ihr, aber die wollt ihr nicht hören, die kann man nicht schreiben, die ist so schockierend wie einfach: Weil ich nicht glaube, dass diese Themen wichtig genug sind, um meinen Arsch für sie ins Feuer zu halten.

Ja! Sie haben richtig gehört. Es ist mir egal.

Ich sage Ihnen, wir werden nicht in Amerika einmarschieren, weil ein paar Schlapphüte neues Spielzeug entwickelt haben. Wir mögen Amerika, seine Serien, dass dort ein Schwarzer Präsident werden kann. Ich bin überzeugter Transatlantiker, gerade, weil ich mich frei dafür entscheiden konnte und nicht wie Sie, meine Damen und Herren, von den Bajonetten des Warschauer Pakts dorthin getrieben wurde.

Dass Sie Griechenland die Euro hinterher geworfen haben, ist auch nicht mein Problem. Die Erdatmosphäre heizt sich auf, weil Sie schon seit 50 Jahren mächtige Autos bauen, kaufen, fahren, verkaufen, verschrotten und mit so einem lächerlich dummen Kreislauf Ihr leeres Leben füllen müssen. Seien Sie mutig: Nehmen Sie doch einfach mal das Rad.

Und bitte glauben sie nun nicht, dass ich nicht wählen gehen würde, dass ich zu diesen eitlen Schmarotzern gehören würde, die zwar den Frieden und die Freiheit der Demokratie genießen, aber nicht ihre großartige Mittelmäßigkeit. Solche Salonphilosophen glauben, dass sie größer wären als die Demokratie. Sie sind damit elende Steigbügelhalter des Nichts. Sie halten ihrem Geist für zu brillant und einzigartig und ironischerweise blitzt darin die ganze einsame Kleingeistigigkeit dieser Menschen auf. Denn sie lesen nichts anderes als ihre eigenen Pamphlete und hören nichts anderes als ihre eigene Stimme und, wenn sie in die Welt schauen, sehen sie nur ihren eigenen Schatten.

Diese Nichtwähler ähneln Ihnen übrigens erstaunlich stark.

Ja, ich gehe wählen. Aber nehmen Sie das nicht als Absolution. Ich wähle aus Demut vor einem System, das mir die Welt darbietet wie ein weißes Blatt. So ein System ist unerhört in der Geschichte. Dieses System gehört mir, ich muss mich darum kümmern. Mit Ihnen hat das nichts zu tun.

Ach, wenn Sie nur soviel von mir wüssten wie ich von Ihnen. Ich komme schließlich nicht umhin, alles von Ihnen zu wissen. Denn sie sind ja überall und plappern ständig und richten und wollen zeigen, wo es langgeht zur Zukunft und merken gar nicht, dass das alles ein ewiges nutzloses Selbstgespräch ist, ein Kreisgelaber, noch dümmer als die Sache mit Ihren Autos.

Ich sehe keine brennenden Barrikaden, ich sehe meine Altersgenossen auf Wiesen liegen, in alten Nudelfabriken tanzen, sehe sie lachen, flirten, streiten, küssen, kotzen, singen, erschaffen.

Ich sehe die Welt anders.

Das können Sie, meine Damen und Herren, nicht akzeptieren. Das ist das Problem. Ich spüre, dass die Welt unruhig geworden ist. Die Welt zittert und das waren Sie. Und da halte ich still und atme lieber das Zittern weg. Denn beim letzten Mal als die Welt so stark vibriert hat, rannten die Jungen mit Hurra in den Großen Krieg. Die besten Köpfe dieser Generation damals wollten Krieger sein und die Welthebel umwerfen, alles neu stellen und verreckten in den Gräben Verduns.

Nein. Diese Fragen haben Sie gestellt, die müssen Sie auch beantworten.  Ich stelle andere Fragen. Ich stelle mir die größten von allen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

Und: Wo ist meine Zukunft?

Ihr habt mir erzählt: Gute Abschlüsse, viele Sprachen, Praktika hier und dort; dann wird das schon. Habe ich alles gemacht, ich Soldatenkind. Und es wurde aber nicht. Sie, meine Damen und Herren, machen mich nun zum Schuldigen und sagen: Ändere dich! Als hätte ich das nicht schon die ganze Zeit getan. Es reicht.

Ihr habt diese Welt verkommen lassen, ihr müsst sie jetzt reparieren.

Denn in Wahrheit sind Sie die selbstverliebten Narzissten, nicht wir. Rente unsicher, Schulden zuhauf, zerfallende Schulen, bröckelnde Infrastruktur. Sie machen nichts. Sie sonnen sich nur in ihrem ach so großartigen Leben und ich bin es leid, das zu schlucken, nur weil Sie uns Arbeit geben. Wenn es denn welche gibt.

Ich sehe Ihre ungläubigen Gesichter. Sie hatten erwartet, dass ich Ihnen nun eine Vision auftische, komplett mit Gesellschaftsstruktur und vorbeschrifteten Aufklebern. Sie wollten ein Bild von diesem neuen Land, das wir bauen werden und Sie wollten hören, wie ich Sie höflich bitte, mich doch auch einmal etwas sagen und zeigen zu lassen – an ihrer statt, nur kurz, damit ich weiß, wie es sich anfühlt.

Ich sehe: Sie haben immer noch nichts verstanden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kommen Sie gut hier raus.

X

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Dieser Text steht unter einer CC-Lizenz. Ihr dürft ihn auf eurer Seite verwenden, übersetzen und weiterverbreiten, wenn ihr mich als Verfasser nennt.

Bild 1: Caspar David Friedrich – Wanderer ueber dem Nebelmeer. Bild 2: Szene aus Django Unchained

#1:
In einer frühreren Fassung hatte ich explizit auch Merkel und Steinbrück zu Beginn angesprochen. Das habe ich gestrichen, weil es in die Irre führte. Es geht nicht um Merkel und Steinbrück. Es geht um mehr.

uwe behrens berlin mordkommissar tatort schauen

Tatort Berlin – dieser Mann ist ein echter Mordermittler

uwe behrens berlin mordkommissar tatort schauen Das ist Uwe Behrens. Er schaut gerade in der Kreuzberger Kneipe Yorckschlösschen den neuen Berliner Tatort „Gegen den Kopf“. Behrens schaut eigentlich keinen Tatort, früher mal, ja, als Schimanski noch im Ruhrpott ermittelte, das hat er gesehen. Aber heute lieber andere Serien. Und als er noch ein Kind war, gab es für ihn nur einen Pflichttermin: Aktenzeichen XY … ungelöst. „Das war wohl prägend“, sagt er. Denn Behrens ist Ermittler bei der fünften Berliner Mordkommission.

Er hat direkt nach dem Abitur bei der Polizei angefangen. Das war im Oktober 1987. Drei Jahre dauerte seine Ausbildung, er war in verschiedenen Bereichen eingesetzt, etwa in der Betrugs-Abteilung. „Da habe ich so spannende Sachen gemacht wie Konkurs-Verschleppung“, sagt er ironisch. „Das war gar nicht mein Ding“. Für Behrens gab es da viel zu wenig Ermittlungen draussen in der Stadt, zu wenig Vernehmungen. „Wir sind mit Kohorten von Steuerberatern gekommen, um Akten meterweise einzusammeln“. Nicht so spannend. Deswegen ab ins Mord-Dezernat. Seit 20 Jahren arbeitet er nun dort und es gab einen Fall, den er nicht vergessen kann.

Er war noch ganz neu bei der Kripo, da marschierte im Februar 1993 ein Mann in ein Autohaus am Tempelhofer Ufer, ging ins Büro, zog eine abgesägte Schrotflinte heraus und erschoss Doris Kirche, die seit 25 Jahren dort arbeitete. Kirche war eine unauffällige Mit-Fünfzigerin, sie arbeitete tadellos. Behrens und seine Kollegen wussten nicht, warum sie jemand hätte umbringen wollen. Sie suchten jahrelang nach Hinweisen. Behrens sagt: „Irgendwann war es mir fast egal, wer sie erschossen hat. Ich wollte nur noch wissen, warum diese Frau sterben musste.“ Fünf Jahre später kommt der entscheidende Hinweis. Die Täter werden verhaftet. Die Frau musste sterben, weil sie ihre große Wohnung in Wilmersdorf nicht aufgeben wollte. Der Immobilien-Makler Eberhard H. hatte den Mord in Auftrag gegeben. Würde in einer Tatort-Folge so ein Plot auftauchen, wir würden sagen: „Das ist ja Quatsch.“ Aber so banal kann das echte Morden sein. Und vielleicht eignet sich der Fall ja für einen Tatort über Gentrifizierung.

Den neuen Tatort findet Behrens übrigens „handwerklich gut gemacht“. Er findet sich und seine Polizeiarbeit darin wieder. Aber zum Tatort-Fan wird er nicht mehr. Er schaut lieber Dexter. Darin spielt ein Mordermittler die Hauptrolle, der tagsüber die Mörder fängt und nachts selbst Menschen tötet.

Merkel und Obamas Syrien-Pläne – als hätte es den Kosovo-Krieg nicht gegeben

Deutschland stützt den Syrien-Kurs von Barack Obama nicht. Angela Merkel hat das entsprechende Positionspapier als einzige europäische Staatschefin nicht unterzeichnet. Spiegel Online schreibt (ohne Autorenkennzeichnung):

„Offenbar hatte Merkel erwartet, dass auch andere Europäer nicht unterschreiben würden. Sie will zunächst eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union finden, so heißt es aus der Bundesregierung.“

Merkel wusste nicht, wie Deutschlands Bündnispartner zu Syrien stehen, obwohl es in den letzten Tagen kein anderes Thema gab und klar war, dass Syrien beim G-20-Gipfel eine Rolle spielen wird. Wenn das stimmt, dann – egal, was inhatlich beschlossen wurde – ist das schlechtes Handwerk. Ein Anfängerfehler im 8. Jahr der Kanzlerschaft.

Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Merkel das Papier aus wahlkampftaktischen Gründen nicht unterschrieben hat – und der Verweis auf die Europäische Union nur eine Finte ist, um davon abzulenken. Sie wird nicht vergessen haben, wie die Deutschen sie kritisierten, als sie den Irak-Krieg der USA unterstützte.

Auf Zeit Online tobt Politik-Chef Bernd Ulrich. Er sieht in der Syrien-Entscheidung den „Tiefpunkt von Merkels Kanzlerschaft“:

Ein begrenzter militärischer Einsatz, an dem man nicht mal teilnehmen muss, ausgeführt durch einen alles andere als kriegslüsternen Präsidenten, gerichtet gegen ein evidentes Verbrechen – einfacher kann man es nicht haben, einen Bündnispartner zu unterstützen. Dass Angela Merkel sich trotzdem verweigert, weil sie im Wahlkampf ist, markiert den bisherigen Tiefpunkt ihrer Kanzlerschaft. Glaubt sie eigentlich, dass Deutschland nie mehr Freunde brauchen wird?

Der erste Kommentar unter dem Artikel übrigens:

Ich finde, die Kanzlerin hat das einzig Richtige getan, egal, wie sich Opportunisten entscheiden. Meinen Respekt hat sie dafür.

Diese Diskussionen erinnern stark an 1998 als Deutschland mit sich gerungen hat, ob es sich am Krieg gegen Serbien beteiligt, um die ethnischen Säuberungen im Kosovo zu stoppen. Nur, dass wir jetzt 2013 haben.

NACHTRAG, 7.9.2013, 17 Uhr.

Deutschland will die Syrien-Erklärung nun doch unterschreiben. Das hat Guido Westerwelle erklärt – und dabei nocheinmal bekräftigt, dass Deutschland eine gemeinsame Haltung der EU abwarten wollte. Die EU-Regierungen forderten die USA auf nicht anzugreifen, ehe die UN ihren Bericht abgeliefert haben.

Die Erklärung hat Augen Geradeaus.

Bildquelle: Flickr

SW #115 – Tschick

Es riecht nach Blut und Kaffee.

Wolfgang Herrndorf, “Tschick”

Außenpolitik-Bingo zum TV-Duell

Witzige Idee des IR-Blogs für das TV-Duell zwischen zwischen Steinbrück und Merkel.

Hier gibt es das Bingo-PDF zum Herunterladen.

So einen Zettel kann man auch selbst herstellen:

3 Fragen, die sich Journalisten stellen sollten, wenn sie eine wissenschaftliche Studie lesen

Journalisten können vieles, ihrem Selbstverständnis nach sogar alles. Aber wissenschaftliche Studien lesen, fällt ihnen schwer. Hier sind drei Fragen, die sie sich bei der Lektüre einer Studie stellen sollten.

1. Können diese zwei Dinge wirklich miteinander in Verbindung stehen?

Eine Umfrage auf der (urkomischen) Homepage correlated.org ergab: Nur 27 Prozent aller Menschen benutzen regelmäßig Zahnseide. Aber unter denjenigen, die zusätzlich angaben, keine Computerspiele zu spielen, waren es 40 Prozent. Heißt das jetzt also, dass Videospielkonsum zu weniger Zahnseidengebrauch führt? Nein. Das ist Zufall. Ein Statistikprogramm hat das ausgerechnet. Es bleibt aber nur solange Zufall bis sie eine gute Theorie vorlegen können, um die merkwürdige Verbindung zu erklären. Ansonsten gilt: Korrelation ist nicht Kausalität.

Schreiben Sie sich diesen Satz überall hin, worauf Sie regelmäßig schauen, auf den Computerschirm zum Beispiel oder den Badezimmerspiegel. Wenn der Autor der Studie, die Ihnen gerade vorliegt, auch keine plausible Erklärung liefern kann, lassen Sie lieber die Finger davon und schreiben Sie nichts. Denn wie jeder Erstsemester lernt: Gib mir Daten, gib mir Zeit und der Weg zur These ist nicht weit (und die Hausarbeit gerettet!). Will heißen: Im Zweifel lässt sich eine Verbindung zwischen allen möglichen Dingen zeigen. Wo wir auch wieder bei correlated.org wären.

2. Hat der Autor der Studie wirklich alle Ereignisse berücksichtigt?

Nehmen wir an, ihr Leser/Nachbar/Schüler fragt Sie, warum es zu Krieg kommt. Weil Sie das nun auch nicht so genau wissen und gehört haben, das schon schlaue Menschen dazu geforscht haben, finden Sie eine Supi-Dupi-Studie, bei der alles passt und die den Titel trägt: „Warum es Krieg gibt“. Schön, denken Sie sich. Das war einfach. Diese Studie sagt nun: Am Krieg sind immer die Frauen schuld. Und der Autor kann das auch über Seiten hinweg ganz plausibel erklären: am Beispiel Helenas und des Trojanischen Krieges.

Hoffentlich ist ihr Leser/Nachbar/Schüler eine kluge Frau, wenn Sie ihr jetzt erklären, warum es immer Krieg gibt. Dann werden Sie nämlich zu erst als Chauvi beschimpft (zu recht!) und dann aufgeklärt, dass man doch nicht von einem Krieg auf alle schließen könne. Schon gar nicht von einem mythischen wie dem Trojanischen. „Ist doch logisch!“, denken Sie sich als schlauer Leser nachdem ich Ihnen dieses übertriebene Beispiel hier gebracht habe. Sie glauben aber nicht, wieviele Wissenschaftler damit Probleme haben, denn in der Realität ist es oft etwas vertrackter. Die Forscher nehmen dann ein paar Beispiele und sagen, dass sie für alle Ereignisse dieser Art stünden – ohne zu überprüfen, ob das auch stimmt.

Oder schlimmer noch: Sie nehmen dann nur die Beispiele, die ihnen in den Kram passen. Wenn ein Forscher so vorgeht, dann ist seine Studie nicht repräsentativ. Sie schmeißen diese Studie dann am Besten weg. Wie übrigens auch alle Studien, die ihnen ein für alle Mal erklären wollen, warum es zu Krieg kommt. Denn das ist wie mit der Geschichte von Frauen und Männern: viel zu kompliziert.

3. Hat er wirklich ALLE berücksichtigt?

Jetzt wird es appetitlich. Ihre Oma kocht nämlich zum Geburtstag für Sie, ihre Geschwister und die Enkel. Leider kann Oma nur noch ganz schlecht sehen, und hat statt zum Salz zum Zucker gegriffen und damit die Klöße gewürzt. Sie essen natürlich ihre Klöße brav auf. Sie wollen Oma ja nicht verärgern. Nur die Enkel verschwinden der Reihe nach während des Essens ins Bad. Als dann alle fertig sind, fragt Oma erwartungsfroh in die Runde: „Hat’s geschmeckt?“ Sie und die Verwandtschaft überbieten sich in Lobhudelei. Schließlich wartet noch ein Erbe. Nur die Kinder sind noch immer im Bad. Denen ist das Erbe egal, sie interessieren sich gerade nur für ihre Bauchschmerzen.

Oma muss aber den Eindruck gewinnen, dass es allen geschmeckt hat. Die Kinder, die stöhnend prostestieren könnten, krümmen sich auf dem Badvorleger (was sagt das eigentlich über Sie als Eltern aus?). Für die Oma ist das eine prima Sache. Sie kann beim Kaffeeklatsch mit den Freundinnen prahlen, wie sehr es allen geschmeckt habe, und dass sie doch, trotz des hohen Alters, noch kochen könne. So, wie die Oma, verhalten sich manchmal auch Forscher. Wenn in deren Studien Daten auftauchen, die konträr zu ihrem gewünschten Ergebnis liegen, lassen sie diese Daten einfach raus. Ausreißer nennen sie diese Daten dann. Oft haben die Forscher dafür eine gute Begründung. Manchmal aber auch nicht. Dann wollen sie einfach nicht zugeben, dass sie statt zum Salz zum Zucker gegriffen haben. Schließlich kann an einer Studie viel Geld und Ruhm hängen – mehr jedenfalls als am Erbe Ihrer Oma.

Drei Dinge: Korrelation ist nicht Kausalität; Repräsentativität; Ausreißer.

Für eine amüsante und lehrreiche Tour de Force durch die Untiefen des Wissenschaftsjournalismus empfehle ich „Die Wissenschaftslüge“ von Ben Goldacre (Affiliate Link)

SW #114

Know your true measurements and dress your mind accordingly.

J.D. Salinger

lkw der bundeswehr im frühjahr 2013 in kahramanmaras, türkei, teil des patriot-kontingentes der nato

Warum Deutschland bei einem Angriff auf Assads Syrien dabei sein wird

lkw der bundeswehr im frühjahr 2013 in kahramanmaras, türkei, teil des patriot-kontingentes der nato

Die USA verstärken ihren Druck auf Syrien, gerade hat ihr Außenminister John Kerry gesagt, dass die USA Beweise für einen Giftgasangriff hätten. Die Militär-Planer feilen wohl schon an der Einsatz-Strategie. Und Deutschland wird dabei sein.

Der LKW oben im Bild ist gewissermaßen der Grund. Denn er ist Teil des deutschen Patriot-Abwehrraketen-Kontingentes in Kahramanmaras, in der Süd-Türkei. Ich hatte die deutschen Truppen dort im April besucht und mir die strategischen Hintergründe des Einsatzes angeschaut: Er dient vor allem der Beruhigung der Türkei, die Assad schon lange stürzen will. Die Bundesregierung betonte allerdings immer wieder, dass der Einsatz rein defensiv sei. Aber schon damals war klar:

Entscheidend dürfte jedoch nicht sein, was die Deutschen sagen, sondern wie das Regime den Nato-Einsatz auffasst. Assads Flugzeuge flögen seit der Stationierung der Patriot-Batterien „in regelmäßigen Abständen“ auf die Grenze zu, berichtet Marcus Ellermann [Der Kommandant – R.G.]. Abfangjäger stiegen auf und erst kurz vor türkischem Gebiet würden die Syrier dann wieder abdrehen. „Sie testen unsere Alarmreaktion“, sagt Ellermann dazu. Das ist eine militärisch korrekte Beschreibung durch den Kommandanten. Das politische Signal ist allerdings ein anderes: Assad zeigt damit in regelmäßigen Abständen den Nato-Truppen den Mittelfinger.

Sollte Assads Regime angegriffen werden, unter Nato-Kommando oder durch einen losen Koalitions-Verbund von USA, Großbritannien, Türkei, vielleicht Frankreich, dann wird Baschar al-Assad keine Unterscheidung machen zwischen den direkten Angreifern und ihren Verbündeten – und vor allem nicht zwischen türkischen Soldaten auf türkischem Boden und deutschen Soldaten auf türkischem Boden.

Der einzige Ausweg wäre der Abzug der deutschen Patriot-Truppen, aber das kann sich Deutschland nach seiner sachlich wohl begründeten, aber bündnispolitisch katastrophalen Enthaltung in der Libyen-Frage nicht mehr leisten. Deswegen gibt es für Angela Merkel kein „Syrien-Dilemma“ wie Hans Monath im Tagesspiegel schreibt.

Deutschland wird dabei sein, weil es längst dabei ist.

Wütende Welt – Diese Karte zeigt (fast) alle Proteste seit 1979

Wenn es so etwas wie „politische Erdbeben“ gibt, dann sind die Mitarbeiter der Global Database of Events, Language, and Tone (GDELT) die Seismografen. Sie versuchen jeden politischen Protest der Erde zu kartografieren. Sie messen das Völkerzittern.

Der Politikwissenschaftler John Beieler hat diese Daten visualisiert. Seine Karte zeigt deutlich, dass die Proteste auf der Welt zugenommen haben. Es gibt sowohl mehr Proteste als auch mehr Proteste an verschiedenen Orten der Welt. Allerdings gibt es Einschränkungen bei der Interpretation der Karte:

  1. Die Daten stammen aus internationalen Nachrichtenquellen. Das heißt: Worüber nicht berichtet wurde, das findet sich auch nicht auf der Karte. Deswegen dürfte etwa Polen in den 1980er Jahren überraschend schwarz sein. Es kann zwar viele Demonstrationen gegeben haben, von denen hat die Welt aber kaum erfahren, weil die Regime-treuen Medien nicht darüber berichtet haben.
  2. Da die Daten nicht händisch, sondern mit Algorithmen verarbeitet wurden, wird plötzlich Wichita in Kansas, USA, zu einem der unruhigsten Orte der Erde. Dort landeten alle US-Proteste, bei denen die Computer keine Ortsmarke finden konnte.
  3. Die Proteste können zugenommen haben, müssen sie aber nicht. Foreign Policy zitiert einen GDELT-Mitarbeiter:

„In some other work we are doing right now, preliminary results suggest that as a percentage of all events captured in GDELT, protests have not become more common overall,“ he explained. „So, the majority of that increase in protest events over time stems from the increase in available digital media,“ especially news.

Aber, es ist ein Anfang. Wenn die Daten besser werden, wird auch die Aussagekraft der Karte besser.

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Die Freunde der Kurden

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Kurden sagen: „Die Berge sind unsere einzigen Freunde „

Amedi, Irak, April 2013