Anzüge zum Marschieren

Was die europäische Krise so verwirrend macht: Wenn ein junger Deutscher sich heute seine Stiefel eng und fest schnürt und seinen Rucksack packt, dann fragen sich die Anderen schlicht: Wohin will er wandern? Wenn er aber einen Anzug anlegt, seine pomadierten Schuhe bindet und sich einen Aktenkoffer greift, dann zittert der Kontinent: Wohin will er marschieren?

Selbstzerstörung im Autopilot – 5 Zeichen, dass die US-Macht gerade implodiert

Viel Tinte wurde schon verbraucht, um den vermeintlichen Abstieg der USA zu beschreiben. Viele Analysen stützten sich dabei auf das Unvermeidliche: den Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens. Die USA verlierten ihre Macht relativ zu anderen Ländern, nicht absolut. Im Moment ändert sich das. Die Vereinigten Staaten büßen an substantieller Kraft ein. Das ist nicht unvermeidlich, das ist ein hausgemachtes Problem. „Selbstzerstörung im Autopilot – 5 Zeichen, dass die US-Macht gerade implodiert“ weiterlesen

Was aus dem Führer der freien Welt geworden ist

Name der US-Präsidenten während des Kalten Krieges:

Führer Der Freien Welt

Name nach dem Irak-Krieg, Guantanamo und dem NSA-Skandal:

Führer Der

Nach dem Government Shutdown:

Der

Photo: Wikipedia; hier könnt ihr ein png dieses Posts herunterladen.

Merkel und Obamas Syrien-Pläne – als hätte es den Kosovo-Krieg nicht gegeben

Deutschland stützt den Syrien-Kurs von Barack Obama nicht. Angela Merkel hat das entsprechende Positionspapier als einzige europäische Staatschefin nicht unterzeichnet. Spiegel Online schreibt (ohne Autorenkennzeichnung):

„Offenbar hatte Merkel erwartet, dass auch andere Europäer nicht unterschreiben würden. Sie will zunächst eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union finden, so heißt es aus der Bundesregierung.“

Merkel wusste nicht, wie Deutschlands Bündnispartner zu Syrien stehen, obwohl es in den letzten Tagen kein anderes Thema gab und klar war, dass Syrien beim G-20-Gipfel eine Rolle spielen wird. Wenn das stimmt, dann – egal, was inhatlich beschlossen wurde – ist das schlechtes Handwerk. Ein Anfängerfehler im 8. Jahr der Kanzlerschaft.

Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Merkel das Papier aus wahlkampftaktischen Gründen nicht unterschrieben hat – und der Verweis auf die Europäische Union nur eine Finte ist, um davon abzulenken. Sie wird nicht vergessen haben, wie die Deutschen sie kritisierten, als sie den Irak-Krieg der USA unterstützte.

Auf Zeit Online tobt Politik-Chef Bernd Ulrich. Er sieht in der Syrien-Entscheidung den „Tiefpunkt von Merkels Kanzlerschaft“:

Ein begrenzter militärischer Einsatz, an dem man nicht mal teilnehmen muss, ausgeführt durch einen alles andere als kriegslüsternen Präsidenten, gerichtet gegen ein evidentes Verbrechen – einfacher kann man es nicht haben, einen Bündnispartner zu unterstützen. Dass Angela Merkel sich trotzdem verweigert, weil sie im Wahlkampf ist, markiert den bisherigen Tiefpunkt ihrer Kanzlerschaft. Glaubt sie eigentlich, dass Deutschland nie mehr Freunde brauchen wird?

Der erste Kommentar unter dem Artikel übrigens:

Ich finde, die Kanzlerin hat das einzig Richtige getan, egal, wie sich Opportunisten entscheiden. Meinen Respekt hat sie dafür.

Diese Diskussionen erinnern stark an 1998 als Deutschland mit sich gerungen hat, ob es sich am Krieg gegen Serbien beteiligt, um die ethnischen Säuberungen im Kosovo zu stoppen. Nur, dass wir jetzt 2013 haben.

NACHTRAG, 7.9.2013, 17 Uhr.

Deutschland will die Syrien-Erklärung nun doch unterschreiben. Das hat Guido Westerwelle erklärt – und dabei nocheinmal bekräftigt, dass Deutschland eine gemeinsame Haltung der EU abwarten wollte. Die EU-Regierungen forderten die USA auf nicht anzugreifen, ehe die UN ihren Bericht abgeliefert haben.

Die Erklärung hat Augen Geradeaus.

Bildquelle: Flickr

Außenpolitik-Bingo zum TV-Duell

Witzige Idee des IR-Blogs für das TV-Duell zwischen zwischen Steinbrück und Merkel.

Hier gibt es das Bingo-PDF zum Herunterladen.

So einen Zettel kann man auch selbst herstellen:

lkw der bundeswehr im frühjahr 2013 in kahramanmaras, türkei, teil des patriot-kontingentes der nato

Warum Deutschland bei einem Angriff auf Assads Syrien dabei sein wird

lkw der bundeswehr im frühjahr 2013 in kahramanmaras, türkei, teil des patriot-kontingentes der nato

Die USA verstärken ihren Druck auf Syrien, gerade hat ihr Außenminister John Kerry gesagt, dass die USA Beweise für einen Giftgasangriff hätten. Die Militär-Planer feilen wohl schon an der Einsatz-Strategie. Und Deutschland wird dabei sein.

Der LKW oben im Bild ist gewissermaßen der Grund. Denn er ist Teil des deutschen Patriot-Abwehrraketen-Kontingentes in Kahramanmaras, in der Süd-Türkei. Ich hatte die deutschen Truppen dort im April besucht und mir die strategischen Hintergründe des Einsatzes angeschaut: Er dient vor allem der Beruhigung der Türkei, die Assad schon lange stürzen will. Die Bundesregierung betonte allerdings immer wieder, dass der Einsatz rein defensiv sei. Aber schon damals war klar:

Entscheidend dürfte jedoch nicht sein, was die Deutschen sagen, sondern wie das Regime den Nato-Einsatz auffasst. Assads Flugzeuge flögen seit der Stationierung der Patriot-Batterien „in regelmäßigen Abständen“ auf die Grenze zu, berichtet Marcus Ellermann [Der Kommandant – R.G.]. Abfangjäger stiegen auf und erst kurz vor türkischem Gebiet würden die Syrier dann wieder abdrehen. „Sie testen unsere Alarmreaktion“, sagt Ellermann dazu. Das ist eine militärisch korrekte Beschreibung durch den Kommandanten. Das politische Signal ist allerdings ein anderes: Assad zeigt damit in regelmäßigen Abständen den Nato-Truppen den Mittelfinger.

Sollte Assads Regime angegriffen werden, unter Nato-Kommando oder durch einen losen Koalitions-Verbund von USA, Großbritannien, Türkei, vielleicht Frankreich, dann wird Baschar al-Assad keine Unterscheidung machen zwischen den direkten Angreifern und ihren Verbündeten – und vor allem nicht zwischen türkischen Soldaten auf türkischem Boden und deutschen Soldaten auf türkischem Boden.

Der einzige Ausweg wäre der Abzug der deutschen Patriot-Truppen, aber das kann sich Deutschland nach seiner sachlich wohl begründeten, aber bündnispolitisch katastrophalen Enthaltung in der Libyen-Frage nicht mehr leisten. Deswegen gibt es für Angela Merkel kein „Syrien-Dilemma“ wie Hans Monath im Tagesspiegel schreibt.

Deutschland wird dabei sein, weil es längst dabei ist.

Wütende Welt – Diese Karte zeigt (fast) alle Proteste seit 1979

Wenn es so etwas wie „politische Erdbeben“ gibt, dann sind die Mitarbeiter der Global Database of Events, Language, and Tone (GDELT) die Seismografen. Sie versuchen jeden politischen Protest der Erde zu kartografieren. Sie messen das Völkerzittern.

Der Politikwissenschaftler John Beieler hat diese Daten visualisiert. Seine Karte zeigt deutlich, dass die Proteste auf der Welt zugenommen haben. Es gibt sowohl mehr Proteste als auch mehr Proteste an verschiedenen Orten der Welt. Allerdings gibt es Einschränkungen bei der Interpretation der Karte:

  1. Die Daten stammen aus internationalen Nachrichtenquellen. Das heißt: Worüber nicht berichtet wurde, das findet sich auch nicht auf der Karte. Deswegen dürfte etwa Polen in den 1980er Jahren überraschend schwarz sein. Es kann zwar viele Demonstrationen gegeben haben, von denen hat die Welt aber kaum erfahren, weil die Regime-treuen Medien nicht darüber berichtet haben.
  2. Da die Daten nicht händisch, sondern mit Algorithmen verarbeitet wurden, wird plötzlich Wichita in Kansas, USA, zu einem der unruhigsten Orte der Erde. Dort landeten alle US-Proteste, bei denen die Computer keine Ortsmarke finden konnte.
  3. Die Proteste können zugenommen haben, müssen sie aber nicht. Foreign Policy zitiert einen GDELT-Mitarbeiter:

„In some other work we are doing right now, preliminary results suggest that as a percentage of all events captured in GDELT, protests have not become more common overall,“ he explained. „So, the majority of that increase in protest events over time stems from the increase in available digital media,“ especially news.

Aber, es ist ein Anfang. Wenn die Daten besser werden, wird auch die Aussagekraft der Karte besser.

Vom Ideenministerium zur Verfassungsversammlung – Island reformiert sich im Internet

Die Isländer machen es jetzt anders. Mit offenen Strukturen und neuen Mitmach-Methoden wollen sie das Land reformieren und die Demokratie ins 21. Jahrhundert führen.

Wahlen und Meinungsumfragen, Untersuchungsaussüsse und öffentliche Kontrolle des Staates hatten nicht verhindert, dass das Land in die tiefste Krise seit seiner Gründung abgerutscht ist. Die rigorose Liberalisierung der Regierung haben eine massive Finanz-Blase entstehen lassen. Die Folge: Verstaatlichte Banken, explodierende Schulden, Verlust des Vertrauens in die Eliten.

Der IT-Unternehmer Guðjón Már Guðjónsson  und der Unternehmensberater Bjarni S. Jonsson sind die Väter einer neuen Demokratie-Bewegung.  Sie haben Prinzipen aus der Computer-Welt in die Politik eingebracht: Offene Ideenfindung, volle Transparenz und die Möglichkeit für jeden, mitzuarbeiten und den „Quellcode“ zu verändern.

Keine herkömmliche Organisation, sondern ein Ideenministerium

Anstatt eine herkömmliche gemeinnützige Organisation zu gründen und darauf zu hoffen, dass aus ihr neue Ideen für die Reform des Landes erwachsen, hat Guðjónsson das so genannte Ideenministerium etabliert – zunächst nur online auf englisch und isländisch (Seiten inzwischen offline). Dort konnten Vorschläge gesammelt, ausgetauscht und bewertet werden.  Ganz so, wie es zur Zeit mit dem „18. Sachverständigen“ begleitend zur Internet-Enquete in Deutschland geschieht. Der Unterschied: Die Isländer haben ein ganzes Land zu reformieren.  Auf der Homepage wurde als Ziel für das Ideenministerium formuliert:

Solving the current challenges by adding new policies to an already fractured framework, as well as injecting economic stimulants, should merely be a short-term fix, to keep the wheels turning while getting to the root of the problem. We now know that long-term problems are not solved with short-term solutions. The very foundations of liberty and democracy must be revisited.

Die FTD berichtet, dass bald nach seiner Einrichtung  immer mehr Vorschläge beim Ideenministerium eingereicht wurden, und die Bürger in so großer Zahl daran teilnahmen, dass auch eine echte, reale Versammlung zu Stande kam. Zur Vollversammlung des Ideenministeriums wurden 1200 Menschen eingeladen, alle von ihnen zufällig  aus dem Melderegister ausgewählt. Heraus kam ein recht gutes Abbild der isländischen Gesellschaft.

Es entsteht eine Paulskirche 2.0

Die zufällig ausgewählten Delegierten wurden von 300 Mitarbeitern von gemeinnützigen Organisationen, Parteimitgliedern, Verwaltungsleuten und Abgeordneten unterstüzt. In Neunergruppen setzten sie sich zusammen und diskutierten die Ideen. Die Ergebnisse dieser Gesprächsrunden katalogisierte und ordnete ein Computer, um daraus eine Ideenwolke zu entwickeln. Der Clou dabei: Alle Ideen standen online, waren einsehbar und änderbar für jeden. Die Vorschläge zur Reform des Landes durchliefen so einen viel stärkeren und vor allem transparenteren Filterprozess als es die gängige Verwaltungs- und Demokratiepraxis vorsieht. Letztlich konnten nicht nur die 1500 Menschen auf der Konferenz an der Zukunft des Landes basteln, sondern jeder, der einen Internet-Anschluss hat – eine Paulskirche 2.0 quasi.

Und die Initiative hat Wirkung gezeigt. Denn die Isländer haben eine neue Verfassungsversammlung gebildet, die nicht nur den etablierten Repräsentanten offen stand, sondern auch den Bürgern; einzige Bedingung: Sie mussten gewählt werden. Das war ein Novum in der Geschichte des Landes. Der isländische Premierminister machte 2009 klar, warum er den Prozess so offen gestaltet hat:

In a statement accompanying the bill the reasons why ideas about a Constitutional Assembly had been revivified were said to be mainly due to the extensive social discourse [Hervorhebung d. Autors] about the need to review the basis of the Icelandic administration following the collapse of the banks and the economic meltdown of the Icelandic economy.

Der Sprung aus der virtuellen in die reale Welt ist geglückt

Die virtuelle Bewegung hatte sich also nicht in Slacktivismus, dem anstrengungslosen Untertstützen von Online-Aktionen, erschöpft. Der Sprung von der virtuellen Welt in die reale ist den Isländern gelungen. Zur Zeit feilen gewählte Arbeitsgruppen der Verfassungsversammlung an Vorschlägen zur Reform. Auf der Homepage, auf Facebook und Twitter kann sich jeder Bürger beteiligen und die Fortschritte verfolgen.

Noch ist es zu früh, um diesen Verfassungsprozess Islands endgültig zu bewerten. Sicher ist aber schon jetzt: Dessen Mischung von analoger und digitaler Teilhabe kann die Legitimation moderner Demokratien vergrößern. Hätte man Stuttgart 21 zumindest auf diese Weise geplant,  hätte viel Ärger vermieden werden und Heiner Geissler im Ruhestand bleiben können. Transparente Ideenfindung heißt Einbindung heißt Schlichtung. Durch digitale Foren wie das Ideenministerium oder die Online-Strategie der Verfassungsversammlung kann der Eindruck vieler Bürger, dass „die da oben“ machen, was sie wollen, bekämpft werden.

Bildquelle: http://on.fb.me/mjbJmE

Der illegale Krieg in Libyen

Schützt die Zivilisten! Das ist der Auftrag der UN-Resolution für Libyen. Um die Zivilisten geht es bei den Luft-Einsätzen aber längst nicht mehr. Deswegen muss der Krieg enden. Sofort.

Von einem Blutbad war die Rede. Falls Pro-Gaddafi-Truppen die Rebellenhochburg Benghasi einnehmen sollten. Dass diese Rebellen, die vor ein paar Tagen noch in ihrer Heimatstadt abgeschlachtet worden wären, heute Stadt nach Stadt erobern, ist da schon erstaunlich. Adschdabija, Brega, Ras Lanuf und bald auch Sirte, die Heimatstadt des Diktators. In den letzten drei Tagen rückten die Rebellen 550 Kilometer vor. Das gelang ihnen nur, weil Ägypten Waffen liefert und die Flugzeuge der internationale Militärallianz den Weg frei bomben. Es wird immer deutlicher: Die Allierten wollen Gaddafi stürzen. Der Einsatz der langsamen, flakanfälligen Kampfflugzeuge AC-130 ist ein Beleg dafür. Für die Kontrolle einer Flugverbotszone bräuchte man diese Flugzeuge nicht. So ist der Schutz von Zivilisten nur noch Mittel zum Zweck. Bewusst verstoßen die alliierten Truppen gegen die UN-Resolution.

Oder würden französische und britische Jagdbomber auch Rebellen angreifen, wenn diese Zivilisten bedrohen? Laut LA Times sollen Rebellen gezielt dunkelhäutige Menschen hingerichtet haben. Ihnen wurde vorgeworfen, Söldner von Gaddafi zu sein. Diese Berichte ertranken allerdings in den reißerischen Vergleichen der Kriegs-Befürworter.

Mahnend wurde Libyen mit Srebrenica und Ruanda verglichend. Das war unpassend. Denn die Serben begingen in Srebrenica systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Hutu in Ruanda Völkermord. Im internationalen Recht können nur diese beiden Taten eine Intervention legitimieren. Beweise, dass Vergleichbares in Libyen geschehen ist, gibt es nicht. Es gab nur Gerüchte und Befürchtungen. Es gab Militärs, die desertierten und Häuserkämpfe. Es gab einen Bürgerkrieg. Und der allein ist kein Grund, das Völkerrecht zu brechen. Die „humanitäre Intervention“ von der Obama gesprochen hat, ist eigentlich Parteinahme in einem Bürgerkrieg – und damit illegal.

Lesetipps:

Eine exzellente völkerrechtlich-normative Bewertung des Libyen-Einsatzes hat der Jurist Reinhard Merkel vorgenommen. Zeit-Korrespondent Ulrich Ladurner arbeitet die geopolitischen Implikationen des Einsatzes auf und warnt vor einer „Afghanisierung“ des Einsatzes. Auch interessant: Der Völkerrechtsexperte Fred Abrahams hält den Libyen-Einsatz für begrüßenswert, da er einen internationalen Präzedenzfall schaffe.

Wer weitere gute Links zum Thema kennt, bitte in der Kommentarspalte posten. Danke

Wir sind Präsident!

In Tunesien demonstrieren die Bürger wieder. Gegen den Noch-Präsidenten Ghannouchi, aber auch gegen das präsidentielle System. Ein Beispiel, das Schule machen sollte.

Es sind nicht F15-Kampfflugzeuge und auch nicht Abrams-Panzer. Die Rangliste der gefährlichtsten Exportgüter Amerikas führt der Präsidentialismus an. Ob in Ägypten, Tunesien oder dem Jemen: Nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten folgten die meist miliärisch dominierten Eliten dieser Länder dem Vorbild der USA und wählten präsidentielle Systeme. Wohlwissend, dass die Gestaltungsräume für einen einzelne politische Kraft, einen starken Mann darin am größten bleiben würden.

Die neuen Demokratien funktionierten mehr schlecht als recht. Im Jemen wurden anfangs noch freie Wahlen abgehalten, bald aber nahm der Autoritarismus von Dauerpräsident Ali Abdullah Salih überhand. Die tunesische Regierung verbot acht Jahre nach der Staatsgründung die einzige ernst zu nehmende Oppositonspartei. In Ägypten verfolgte General Nasser unbarmherzig die oppositionelle Muslimbruderschaft und schwang sich zum uneingeschränkten Herrscher des Landes auf.

Hätte-wäre-wenn-Spiele funktionieren in der geschichtlichen Betrachtung nicht. Es bleibt unklar, was passiert wäre, wenn die jungen arabischen Republiken nicht den Präsidentialismus, sondern ein parlamentarisches System gewählt hätten. Aber nicht ohne Grund haben alle acht heutigen, osteuropäischen Mitglieder der EU ein parlamentarisches System. Und nicht ohne Grund sind mit der Ukraine und Weissrussland zwei Länder mit präsidentiellem Systemen noch immer die politischen Parias Europas.

Präsidentielle Systeme tragen den Keim zum Autoritarismus in sich. Der Fokus auf einen Mann an der Spitze, gar begleitet von einem herrischen Zentralismus oder einem starken militaristischen Ethos, wird zum Katalysator für die Diktatur. Die ersten Präsidenten der neuen arabischen Republiken konnten mit ihrer formell zwar beschränkten, aber dennoch immensenen Machtfülle die Opposition aus dem Weg räumen und so ihre Herrschaft auf Jahre hinaus sichern.

Anders in parlamentarischen Systemen, etwa in Deutschland. Dort braucht es zwingend Parteien. Das Volk muss untereinander in Dialog treten, sich sortieren und formieren und schließlich ins Parlament gewählt werden, eine große Pluralisierungsmaschine setzt sich da in gang. Schließlich werden die Parteien genauso zahlreich wie ihre inhaltlichen Unterschiede sein. Die Gefahr, dass eine einzige politische Kraft sich durchsetzt, sinkt mit der Zahl der Parteien. Jede Partei wird – schon aus purem Eigennutz – darauf achten, dass sich keine andere Partei illegal Vorteile verschafft.

Oft müssen die Parteien in parlamentarischen Systemen gar Koalitionen eingehen, um überhaupt regieren zu können. Diktatorische Alleingänge, geschweige denn autoritäre Verfassungsänderungen zugunsten der eigenen Partei werden dadurch zusätzlich erschwert.

Zudem: Die Premierminister, Kanzler und Ministerpräsidenten solcher Systeme regieren von Parlaments Gnaden. Verliert der Regierungschef das Vertrauen, kann er durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden.

Die Bürger Tunesiens tun also gut daran, ein parlamentarisches System zu fordern und dem halbgaren Präsidentialismus den Rücken zu kehren. Es bleibt die Hoffnung, dass auch die Ägypter vom politischen Pharaonentum Abschied nehmen und sich dem Parlamentarismus zuwenden.

Ägypten: Was nun? – Sieben Links fürs Wochenende

Das ägyptische Volk hat Hosni Mubarak vertrieben, der Militärrat hat die Macht übernommen. Sieben Texte, die verstehen helfen, was in den nächsten Wochen passiert.

General Hussein Tantawi: Der Mächtige (FAZ)

Hosni Mubarak hat die Staatsgeschäfte dem Militärrat übergeben, der von General Hussein Tantawi, Verteidigunsminister und Kriegsvetereran, geleitet wird. Die FAZ meint: „Gegen Tantawi, der auch schon 75 ist, läuft nichts in Ägypten.“

Warum Mubarak am Ende ist (FAZ)

Auch wenn es der Titel anders suggeriert, dieser Aufsatz des amerikanischen Politik-Professors Paul Amar ist noch immer hochaktuell. Er beschreibt und analysiert kenntnisreich die einflussreichsten Gruppen in Ägypten,  fordert einen Abschied von einfachen Erklärungsansätzen à la „Volk gegen Diktatur“, „Laizisten gegen Islamisten“ sowie „Alte Garde gegen frustierte Jugend“ und unterstreicht die lange Tradtition Ägyptens in Internationalen Organisationen. Wenn Sie nur Zeit für einen Text haben, dann sollte es dieser sein. Das englische Original findet sich auf www.jadaliyya.com.

Avoiding a new pharaoh (NYT)

Der zweifache Pulitzerpreisträger Nick Kristof war einer der Ersten nach der Resignation Mubaraks, der eine Analyse (direkt aus Kairo) veröffentlichte. In seinem, angesichts der Umstände, erstaunlich nachdenklichen Text warnt er vor dem ägyptischen Militär: „I worry that senior generals may want to keep (with some changes) a Mubarak-style government without Mubarak.“

Mubarakism without Mubarak (FA)

Kristofs Sorge wird geteilt. Für die Online-Ausgabe von Foreign Affairs beschäftigt sich Politikprofessor Ellis Goldberg mit der Geschichte der ägyptischen Armee und kommt zu dem Schluss, dass diese nicht die Demokratie unterstützen werden. Schließlich hat sie sich in den letzten Jahrzehnten ein dichtes Netz aus Privilegien, Firmen und Patronage-Systemen aufgebaut, das beim Aufbau einer Demokratie verschwinden würde.

The Secret Rally That Sparked an Uprising (WSJ)

Das Wall Street Journal beschreibt, wie eine kleine Gruppe von Aktivisten, darunter Wael Ghonim, der zwischenzeitlich inhaftierte Google-Mitarbeiter, die Anfänge der Proteste organisierten, immer mit dem Ziel, auch die Menschen zu erreichen, die nicht auf Facebook sind. „The plotters say they knew that the demonstrations‘ success would depend on the participation of ordinary Egyptians in working-class districts like this one, where the Internet and Facebook aren’t as widely used.“ 20 Demonstrationsorte machten sie bekannt. Die ägyptische Polizei wartete schon. Am 21., einem geheimen, zuvor verabredeten Ort, gelang den Aktivisten schließlich der Durchbruch. Die Zukunft Ägyptens wird nicht ohne sie gestaltet werden.

The Muslim Brotherhood’s Strategy in Egypt (The Atlantic)

Die vom Westen gefürchtete Muslimbruderschaft hatte sich in den vergangenen 18 Tagen von Demonstration und Revolte zurückgehalten. Dahinter steckt sowohl eine Überzeugung: „This is a revolution for all Egyptians–it’s not ours“. Als auch eine Strategie: „It knows that it can win in the long run, if it can emerge relatively unscathed over the short run“, schreibt The Atlantic.

The Revolution Betrayed (ProSyn)

In einem erfahrungsgesättigten Text für Project Syndicate warnt die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko vor der „Revolution, die ihre Kinder frisst“. Wahlen allein seien kein Garant für Demokratie, nur eine echte Zivilgesellschaft könne die Demokratie beschützen. Bis sie entsteht, brauche es allerdings Jahre.

Trivia

Am 11. Februar 1979 war die bisherige Ordnung völlig zusammengebrochen. #iran
Nelson Mandela wurde am 11. Februar 1990 aus dem Gefängnis entlassen. #südafrika
Hosni Mubarak trat am 11. Februar 2011 als Präsident Ägyptens zurück. #egypt

 

Bildquelle: Flickr

Westerwelle und der Bumerang

Viel Kritik musste Außenminister Guido Westerwelle in den letzten Tagen für seine zurückhaltenden Ägypten-Äußerungen einstecken. Aber er hat Recht. Ein Kommentar.

Bei Guido Westerwelle ist es wie bei einem Bumerang. Er sagt etwas, und diese Worte fliegen stets in hohem Bogen zu ihm zurück. Die Opposition kritisiert ihn oft. Entweder seien seine Worte zu stark, man denke nur an seine Aussagen zu Hartz-IV, oder sie seien zu schwach, wie im Fall seiner Äußerungen zu den Protesten in Ägypten.

Die Situation dort ist nach der Videoansprache Hosni Mubaraks eskaliert. Anhänger des Präsidenten lieferten sich Straßenschlachten mit Demonstranten. Westerwelle mahnte daraufhin ein friedliches Vorgehen von beiden Seiten an und rief die Regierung Ägyptens auf, in den Dialog mit den Demonstranten zu treten. Für die Opposition ist das zu wenig. Westerwelle müsse „in Richtung Ägypten endlich eindeutig Stellung beziehen“ und auch Taten sprechen lassen, sagte etwa Grünenvorsitzende Claudia Roth.

Dass sich der sonst so redebedürftige und pointierte Westerwelle im Falle Mubarak Zurückhaltung auferlegt hat, ist jedoch berechtigt.

Denn die Freiheit, sein eigenes Schicksal zu lenken, ist eines jener Grundrechte, für die das ägyptische Volk gerade demonstriert. Würde Westerwelle Mubarak öffentlich zum Rücktritt auffordern, sich gar auf die Seite des säkulären Oppositionsführers Mohammed El-Baradei schlagen, wäre das eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ägyptens. Die Fortsetzung eben jener Politik, für die die Staaten des Westens in den letzten Jahren kritisiert wurden.

Jedes Volk muss sich seine Freiheit auf den Straßen selbst erkämpfen und in den Parlamenten anschließend verteidigen können. Nur, wenn das ägyptische Volk die Reformen der kommenden Monate ungestört debattieren und steuern kann, wird es dem neuen, hoffentlich demokratischen Staat seine Absolution erteilen. Zuviel äußere Einmischung in diesen Emanzipationsprozess behindert ihn nicht nur, sondern konterkariert ihn gar. Denn ein vom Westen öffentlich unterstützter Oppositionsführer und möglicher Präsidentschaftskandidat El-Baradei müsste in den Augen der ägyptischen Demonstranten wie eine Marionette erscheinen. Darin dem Präsidenten Afghanistans, Hamid Karzai, nicht unähnlich.

Die Geschichte zeigt jedoch, dass der Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung für ein Volk schmerzhafter und steiniger sein kann als erhofft. Dass die Euphorie der Revolution durch Verbitterung ersetzt werden kann. Der Französischen Revolution folgte der terreur der Jakobiner, der deutschen Märzrevolution von 1848 die monarchistische Konterrevolution von König Friedrich Wilhelm IV. Letztlich konnte sich das Volk nur dort emanzipieren, wo es immer wieder auf seine Rechte pochte.

Wenn Grünen-Chefin Roth also verlangt, dass sich die Bundesrepublik öffentlich gegen Mubarak ausspricht, verlangt sie zuviel. Denn auch solch eine Stellungnahme Westerwelles käme mittelfristig wieder zurück wie ein Bumerang. Allerdings würde dieser uns alle dann treffen. In jenem Moment nämlich, in dem klar wird, dass ein reformierter ägyptischer Staat auch wieder zur Autokratie werden kann. In dem Moment, in dem die Revolution beginnt, ihre Kinder zu fressen – und das ägyptische Volk weder Kraft noch Willen hat, sie daran zu hindern.

[ Dieser Text ist im Rahmen meiner journalistischen Ausbildung entstanden und spiegelt den Nachrichtenstand von Donnerstag, dem 3.2., 21 Uhr wider.]

Die Mär vom „Westen“

Während sich die Ereignisse in Ägypten in den letzten Tagen überschlugen, wurde „der Westen“ erheblich kritisiert. Das Problem daran: Die Kritik trifft nicht ihr Ziel.

Er toleriere nur Umstürze, wenn er sie selbst initiiert habe. Seine realpolitische Strategie habe sich als gescheitert erwiesen. Erst seit den jüngsten Aufständen habe sich auch auch die Sprache der westlichen Politik flugs geändert. Diese Kritik an pragmatischem Opportunismus und realpolitischer Doppelmoral ist nötig und berechtigt. Aber sie ist problematisch.

Denn es gibt keinen politischen „Westen“, der eine einheitliche Strategie gegenüber Ägypten in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben könnte. Es gibt vor allem die EU, deren Mitgliedsstaaten und die USA. Und alle drei agieren unabhängig voneinander. Was allzu schnell unter dem Begriff „der Westen“ zusammengefasst wird, bezeichnet eine kulturelle, wertgebundene Einheit. Aber keine geopolitisch-strategische.

Wie die drei Akteure in den letzten Jahren mit Ägypten umgegangen sind, zeigt das deutlich.

Die BRD konzentriert sich ihrer Zusammenarbeit auf die Förderung des wirtschaftlichen Sektors. Das ist klassische, realistische Außenpolitik. Auch die ersten Kommentare von Außenminister Guido Westerwelle und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg waren realpoltisch motiviert. Sie warnten vor Instabilität und dem radikalen Islam.

Bei den USA ergibt sich das gleiche Bild. Die bilaterale HIlfe umfasst zwei Milliarden Dollar, 1,3 Milliarden davon als direkte Militärhilfe. Die restlichen 700 Millionen fließen via USAID in verschiedene zivilgesellschaftliche Projekte sowie Programme, die die Governance-Qualität in Ägypten erhöhen sollen. Auch die USA waren zunächst äußerst zurückhaltend, die Menschenrechtssituation in Ägypten offen anzusprechen und Mubarak zu kritisieren. Stabilität war ihnen wichtiger.

Die EU ging anders vor. Ihr Programm für Ägypten umfasste zwischen 2007 und 2010 550 Millionen Euro und konzentrierte sich zu 60 Prozent auf Menschenrechte, Aufbau der Zivilgesellschaft und Justizreformen. Flankiert wurden diese Programme von ständigen Appellen an die ägyptische Regierung, die Menschenrechtsqualität zu verbessern. In ihren Berichte redet die EU kaum von etwas anderem. Auch mahnte Catherine Ashton, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, bereits vergangenen Donnerstag die Einhaltung von Menschenrechte an. Von einer „Hofierung“ kann also keine Rede sein.

Die EU benutzt ihre enorme wirtschaftliche Macht als Hebel, um die Demokratie zu fördern. Für die Partnerländer bedeutet das: Nur, wer die Werte der EU übernimmt, kann die enormen Vorteile der EU, den Binnenmarkt etwa, nutzen. Diese Form der „soft power“, der Konditionalität hat sich vor allem in Osteuropa und der Türkei als äußerst erfolgreich erwiesen. Und sie unterscheidet sich in ihrer Konzeption fundamental von „hard power“, die vor allem die USA als größte Militärmacht des Planetens betreiben.

Den „Westen“ zu kritiseren, erweist sich da als Fehlschluss. Die USA und die einzelnen Nationalstaaten sollten die Adressaten von Kritik sein.