the nap

the cold. inside out

(Fortlaufende) Gedanken zur Glaubwürdigkeitskrise der Medien

Vielleicht ist die gegenwärtige Vertrauenskrise der Medien auch ein Symptom für eine tiefergehende Krise. Die Bürger benutzen die Fehler der Journalisten, um diese in Kommentarspalten (also auf Plattformen, die die Medien selbst bereitstellen) aufzudecken und sich so ihrer eigenen Macht und und Handlungsfähigkeit zu vergewissern. In der Wirtschaft und der Politik haben sie diese ja längst eingebüßt: Streiks werden durch den globalen Wettbewerb unwirksam gemacht und Wahlen mit unterschiedlichen Ergebnissen führen doch erstaunlich oft zu der gleichen Politik. Wenn das stimmt, wären Journalisten ultimativ auch auf die anderen Eliten angewiesen, um wieder glaubwürdig zu werden, müssten aber natürlich zunächst das implizite Versprechen einlösen, dass sie geben, wenn sie eine Kommentarspalte einrichten: „Wir hören euch zu“. – 16.11.

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Auffällig ist, dass eine Konfliktlinie zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist, was als Manipulation gilt und was als handwerklicher Fehler. Das illustriert die Debatte um den einsamen Putin von Brisbane, die zwischen Stefan Niggemeier und der Tagesschau entbrannt ist. Der Chefredakteur fühlt sich zu unrecht angegriffen:

„Nun wirft uns Niggemeier vor, absichtlich [Hervorhebung durch mich] diesen Ausschnitt gewählt zu haben, in dem Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vom Kellner verdeckt ist, um so zu tun, als ob Putin allein am Tisch gesessen habe.“

Und das stimmt nicht. Niggemeier wirft ihnen vor, einen Fehler gemacht zu haben an einer Stelle und bei einem Thema, bei dem derzeit keine Fehler passieren dürfen. Er wirft ihnen vor, ungeschickt zu agieren, was Gniffke noch verschlimmert durch seine Antwort. Es ist schwer, eine Manipulation von einem Fehler zu unterscheiden, weil beides ähnlich aussehen kann, aber unterschieden wird, weil die Manipulation gewollt ist und der Fehler nicht. Helfen könnten mehr Informationen darüber, wie die Nachricht entstanden ist oder ein persönlicher Draht zu dem Reporter. Helfen würde auch Vertrauen; ein Teufelskreis. – 18.11.

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Dieser Daily-Dot-Artikel liefert eine wichtige Spur in der Vertrauenskrise:

Buzzfeed’s ability to dominate the dissemination of its articles over social media with only approximately two percent of population both knowing what Buzzfeed it and viewing it as a trusted news source is evidence that trust doesn’t matter anymore when it comes to online media—especially when its disseminated through Facebook.

Pew researcher Kenny Olmstead noted that Facebook has the tendency to make people forget what outlet produced a specific piece of information, like the New York Times, and instead substitute the platform they used to discover the content in question—Facebook.

Das heißt: Der Journalist hat die Arbeit, der Verteiler bekommt das Vertrauen. Es heißt aber auch, dass es für Medien schwierig ist, eine vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Lesern über Facebook aufzubauen. Und es heißt auch: Medien müssen viel stärker daran arbeiten, eine Plattform zu werden, die Leser gezielt ansteuern. – 19.11

(Dank Simon bin ich auf diesen Artikel gestoßen).

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Journalisten halten sich für die Guten, glauben qua Beruf auf der richtigen Seite aller Konflikte zu sein. Vielleicht ist das eine Ursache für den Zynismus, den viele von ihnen zur Schau stellen und er aus ihrer Sicht eine legitime Kritik ist. Wer glaubt, dass er im Recht sei, schreibt spitzer, titelt plakativer, urteilt härter. – 23.11.

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Wir sollten aber auch nicht alle Schuld den Journalisten zuschieben: Sie können nichts dafür, dass einige Menschen nicht verstehen, dass nicht jede Webseite und jedes Youtube-Video gleichermaßen ihre Aufmerksamkeit verdient. Dass die Informationen im Netz technisch gesehen zwar völlig gleich sind, aber deswegen nicht gleich viel wert. Wobei „Wert“ natürlich schwammig ist. Für die Kritiker der „Mainstream-Medien“ sind alternative Angebote schon wegen ihrer bloßen Existenz etwas wert während sich die „Mainstream-Medien“ mit jedem Beitrag neu rechtfertigen müssen. – 23.11.

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Ein Weg aus der Krise ist die persönliche Bande, die Ansprechbarkeit der Journalisten. Was dann aber auch dazu gehört: Redaktionelle Eingriffe, für die der Autor meistens nichts kann, sichtbar zu machen bspw. kommt es immer wieder vor, dass die Redaktion Überschriften so zuspitzt, dass sie falsch sind oder die Tatsachen verdrehen. Dafür rechtfertigen muss sich dann der Autor obwohl er der falsche Adressat ist. Wir könnten das mit einem einfachen Vermerk „Redigiert von..“ erreichen. Oder den Autoren das letzte Wort überlassen, so dass sie tatsächlich verantwortlich gemacht werden können. – 23.11.

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in loser Folge denke ich gerade über die vertrauenskrise nach, die unsere gesellschaft erschüttert. hier geht es zum ersten teil

Das Vertrauen bröckelt in einem kleinen, steten Beben

Ein paar noch unrunde Überlegungen zum allgegenwärtigen Misstrauen. Ich freue mich über eure Meinungen.

Die Vertrauenskrise, in der sich Deutschland und seine europäischen Nach barn befinden, ist umfassend. Die Bürger misstrauen den Politikern, der so genannten „politischen Klasse“, die abgehoben sei, machtversessen und egoman. Sie misstrauen den Bankern, die unsere Zivilisationen vor sechs Jahren im Mark erschüttern haben. Sie misstrauen den Chefs, die 30-mal so viel verdienen wie sie. Sie misstrauen den Journalisten, die in der Wulff-Affäre Bobbycars hinterhertelefonierten, sich in der Ukraine-Krise im Schützengraben wähnen und Demonstranten als „Wutbürger“, Nato-Kritiker als „Putin-Versteher“ schmähen. Ja selbst die Wissenschaftler und Staatsanwälte sind nach Plagiatsskandalen und fragwürdigen Klageschriften (Kachelmann, Wulff) nicht mehr unbefleckt.

Die Bürger misstrauen ihren Eliten, so viel ist sicher. Das ist verheerend, denn diese Eliten sind sichtbar, sie bewegen sich auf einer Bühne. Sie sind mit Sicherheit keine Vorbilder so wie Mario Götze ein Vorbild für kleine Fußball-Stars ist. Sie sind aber die Taktgeber der Gesellschaft; sie prägen, in dem sie vorleben. Ihre Verfehlungen vergrößern sich hundertfach und werden stilprägend. Wenn das Verhalten der Eliten anrüchig ist, wirkt es oft so als sei die ganze Gesellschaft verdorben. Mehr noch: Eliten verderben die Gesellschaft.

Beispiel: Ein Bundeskanzler nimmt kurz nach dem Ende seiner Amtszeit die Dienste eines großen Gaskonzerns an, den er vorher politisch protegiert hatte. Der Bundeskanzler hatte zuvor einen Eid geschworen, zum Wohle des Volkes zu arbeiten, den er aber hintenanstellt, sobald er es darf und sich lieber nimmt, was er kriegen kann. Warum sollte nicht auch ein kleiner Bürger jede legale Gelegenheit ergreifen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, wenn der Bundeskanzler es genauso macht? Und, wenn ein Rechtschaffener sieht, dass sein Mitbürger so handelt, warum sollte er es nicht selbst auch tun?

Noch ein Beispiel: Wenn Journalisten einen Gewerkschaftschef persönlich verunglimpfen, aber nicht gleichzeitig erklären, welche Rolle das Multi-Milliarden-Euro-Unternehmen spielt, das ihm gegenübersteht, dann wundere ich mich nicht, warum unter Nachbarn lieber geklagt wird als nachgefragt.

Wenn aber die Bürger sich grundlegend misstrauen, gerät alles ins Wanken. Dieser Effekt wird in unseren Zeiten verstärkt durch die allgemeine Unsicherheit, die Klimawandel, Wirtschaftskrisen und Terroranschläge hervorrufen. In einer guten Gesellschaft sind sich die Menschen sicher, dass ihre Mitbürger, auch wenn sie anders denken, leben, aussehen, noch eine Überzeugung teilen: dass es wichtig ist, was den Mitmenschen zustößt, dass sie das Gemeinwohl im Auge haben. Das Streben nach dem Gemeinwohl müsste sich wie ein kleiner Faden von der Ärztin zum Müllmann zum Offizier zur Studentin ziehen. Das würde Sicherheit schaffen. Denn, wenn ich weiß, dass sich mein Gegenüber auch um die Gemeinschaft kümmert, teile ich etwas mit ihm, habe weniger Angst vor ihm und traue ihm und meinen Mitmenschen generell mehr zu. Der Zusammenhalt wäre größer und die Gefahr von Radikalisierung und Extremismus kleiner.

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Ich spüre diese große Vertrauenskrise wie ein kleines, stetes Beben. Ich kann bisher keinen dieser Gedanken belegen. Das wollte ich an dieser Stelle aber auch noch nicht. Entsprechende Studien und Umfragen werde ich bei Gelegenheit heraussuchen. Über Hinweise bin ich dankbar.

 

Serbian Soldiers clean their tanks in front of a Shopping Center in Belgrade o 16. October 2014

Putzen in Belgrad

Anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung von Belgrad von der deutschen Besatzung, ließ Serbien zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Panzer für eine Militärparade aufrollen. Wochenlang haben die Serben vorher über diese Parade diskutiert; was sie bedeutet, ob sie wirklich nötig sei und warum sie eigentlich vier Tage zu früh stattfindet… Wladimir Putin kam zu einer Stippvisite und – so wird geschrieben – der russische Präsident hatte am 20. Oktober keine Zeit. Zu Ehren des hohen Gastes wurde die Geschichte etwas frisiert und gestern einfach früher paradiert.

Lange Reihen von putzenden Soldaten zierten die Straße rund um das Paradegelände. Das Kriegsgerät musste glänzen, nur viel genützt hat es nicht. Denn just als die Parade anfing, öffnete sich der Himmel und es regnete in Strömen. Hunderte, Tausende flüchteten von dem Gelände. Am Montag, dem eigentlichen Jubiläumstag, beträgt die Regenwahrscheinlichkeit übrigens 0 Prozent.

Serbian Soldiers clean their tanks in front of a Shopping Center in Belgrade o 16. October 2014Serbian Soldiers clean their tanks in front of Hypo Alpe Adria tower in Belgrade o 16. October 2014Three Serbian soldiers clean their jeep before parade on 16th of October in Belgrade

Helft mir recherchieren: Russland, Serbien (und die EU)

Russlands Präsident Dmitri Medwedew spricht 2009 vor der serbischen Nationalversammlung. Quelle: Wikipedia / CC-SA-BY 3.0

Es war niemand aus der EU. Nicht der deutsche Bundeskanzler, der Kommissionspräsident oder der französische Präsident. Es war Dmitiri Medvedev, Präsident Russlands, der 2009 als erster ausländischer Würdenträger vor der serbischen Nationalversammlung sprach. Das ist ein Zeichen. Eine Mehrheit der Serben will nicht in die Nato, die das Land 1999 bombardiert hatte. Die serbischen Christen praktizieren die Orthodoxie, ähnlich den russischen. Und am 16. Oktober reist Wladimir Putin zu einem Kurztrip nach Belgrad, um der Befreiung der Stadt von den Nazis zu gedenken. Die Verbindungen zwischen den beiden slawischen Ländern Serbien und Russland sind eng.

Gleichzeitig will das Land Mitglied der EU werden. Seit 2009 brauchen Serben keine Visa mehr, wenn sie in den Schengen-Raum reisen.  2011 lieferte es die letzten, vom Haager Kriegsverbrechertribunal gesuchten Serben aus. Das schwierige Verhältnis zum Kosovo normalisiert sich in zwar kleinen, aber häufigen Schritten. Und seit Januar diesen Jahres verhandelt die EU offiziell mit dem Land über einen Beitritt.

Seit Beginn der Ukraine-Krise sitzt Serbien zwischen allen Stühlen – und darüber würde ich gerne für Krautreporter berichten. Ich reise in der dritten oder vierten Oktoberwoche in das Land. Natürlich gibt es ganz offensichtliche Stellen, an die ich mich wenden sollte, die Delegation der EU etwa oder das russische Kulturinstitut vor Ort.

Aber ich bin mir sicher, dass es auch noch Menschen und Orte gibt, die etwas über die Gratwanderung des Landes zwischen EU und RU erzählen können, aber mir nicht auf- oder einfallen würden.

Daher: Wenn ihr eine Idee oder einen Tipp habt, wen ich kontaktieren und sprechen soll,  meldet euch bitte bei mir. Egal, ob es das serbische Unternehmen ist, dass durch die EU-Sanktionen gegen Russland profitiert. Oder z.B. Serben, die, wie die  Tagesschau berichtet, auf Seiten der pro-russischen Separatisten in der Ukraine kämpfen.

Schreibt mir eine Mail, hinterlasst einen Kommentar oder sprecht mich auf Twitter an.

Danke!

 

A Walk Around The Park

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Baumblüte

Ich war beim Baumblütenfest in Werder – und habe einmal vom Spezialgetränk probiert, dem Obstwein. Das war gut für den Text… oder auch nicht. Das entscheidet ihr –> http://www.zitty.de/baumblutenfest-in-werder.html

SW #147 – Akzentuiertes Denken

In Deutschland glauben wir: Wenn jemand mit Akzent spricht, dann denkt er mit Akzent.

Shermin Langhoff, Intendantin Maxim Gorki Theater, KulturSpiegel 4/2014

SW # 143 – Heine über Hamburg

Wahr ist es, es ist ein verludertes Kaufmannsnest hier. Huren genug, aber keine Musen

Heinrich Heine, 1816

Im Berliner Gebet-Automaten

In der Moabiter Arminiusmarkthalle schiebt Bernd der Hausmeister eine Sackkarre an der kleinen Kabine vorbei, in der man auf 64 Sprachen das finden kann, was größer sein soll als jeder Mensch: das Göttliche. Bernd sieht wie Lisa, die Fotografin, und ich die Kabine neugierig betrachten. Er sagt: „Die könnt ihr mitnehmen, die ist großer Müll.“ Er würde uns auch seine Sackkarre zu diesem Zweck überlassen.

Die Kabine heißt offiziell „Gebetomat“. In ihr kann man sich 300 Gebete aus Dutzenden Religionen anhören – und sie soll der kleinste spirituelle Raum sein, ein Platz, um an Bahnhöfen, in Kaufhäusern oder Parks in sich zu kehren.

„Weißt du, was am Besten wäre?“, fragt Bernd mich. „Wenn mal einer eine Nummer da drin schieben würde und jemand ein Foto davon macht, das sie dann in der Bild-Zeitung bringen… Ruck-Zuck wäre das Ding weg.“ Bernd scheint nicht viel vom Göttlichen zu halten. Ich verstehe nicht ganz, warum. Denn die Kabine stört eigentlich niemanden, wie sie da unter den drei spitz zusammen laufenden Fenstern im Seitenschiff der Markthalle steht. Aber Bernd ist wohl einfach ein echter Berliner.

Berlin ist die Kapitale der Gottlosen

Denn in dieser Stadt geht man aus, aber kehrt nirgendwo ein. Die Moderne und der real existierende Sozialismus haben hier ganze Arbeit geleistet: In der Erinnnerung der Menschen wird es für lange Zeit keine Stadt auf Erden mehr geben, in der so wenig gebetet wurde wie in Berlin nach dem Mauerfall. Es ist die Kapitale der Gottlosen. Nur langsam, und kaum bemerkbar schiebt sich das Religiöse in Form von zeitgeistigen Freikirchen wieder in die Mitte der Gesellschaft.

Ich aber schiebe mich jetzt erst einmal in den Gebetomat, der einem Fotoautomat ähnelt. Darin: Ein kleiner Hocker, vor mir ein berührungsempfindlicher Bildschirm, auf dem ich auswählen kann, was über die zwei Lautsprecher erklingen soll. Ich ziehe den Vorhang zu. Er schottet mich nur leidlich von der lärmenden Markthalle ab. Ich wähle ein buddhistisches Gebet aus Tibet. Es heißt: „Until Supreme Illumination“. Murmelnde Männerstimmen erklingen, werden immer lauter, ganz sachte, vor meinen Augen sehe ich den blauesten Himmel, graue Berge und gelbe Felder, ich sehe den Himalaya und die Markthalle lärmt nicht mehr. Als das Gebet zu Ende ist brauche ich einen Moment, um mich wieder zu besinnen.

Weiter geht es mit einem hinduistischen Gebet. Aber das schalte ich nach ein paar Minuten wieder ab, es nervt. Bei ein Requiem zu Ehren des toten Papst Johannes Paul II. kann ich mir den Priester, der das Gebet spricht, vorstellen: er ist alt und rigide. Sein Gebet ist schwülstig. Erst ein gesungenes Gebet russisch-orthodoxer Christen zieht mich wieder aus meiner ziemlich weltlichen Nörgelei in den Raum der Heiligkeit. Dieses Gebet höre ich bis zum Ende und denke dabei an gar nichts, sondern bin einfach bei mir, und das ist, glaube ich, sowieso der Zweck der Einkehr, und nicht ein Kurztrip in den Himalaya.

Der Hausmeister sagt über den Gebet-Automaten: „Diese Kiste klaut noch nicht einmal einer.“

Der Gebetomat funktioniert also. Aber er hat ein entscheidendes Problem: Wenn man bereit ist zur Einkehr, und Entspannung sucht, wird man sich nicht in eine enge Kabine mit Stahlwänden setzen, man wird in die Kirche gehen, am Fluss Musik hören, wird im Park dösen, im Atelier malen oder auf einem Feld Wolken beobachten. Und wenn man nicht bereit ist dazu, wird man einfach wie Bernd der Hausmeister an dem Gebetomat vorbeigehen, gerne auch mehrmals am Tag, mit Sackkarre oder ohne, und wird jedes Mal leise vor sich hinfluchen: „Diese Kiste klaut noch nicht mal einer.“

Dieser Text entstand für Zitty, 02/2014.  Die Fotos stammen von Lisa Wassmann.

Der Hitchens in uns – was Englands größter Polemiker den Digital Natives lehren kann

Vor zwei Jahren starb der britisch-amerikanische Journalist Christopher Hitchens. Er war ein großer Polemiker, Buch-Fanatiker und hat nie getwittert. Genau deswegen kann er den Digital Natives viel lehren. Eine Handreichung in 5 Punkten. „Der Hitchens in uns – was Englands größter Polemiker den Digital Natives lehren kann“ weiterlesen

Expedition

War gestern am Ku’damm und habe da einen neuen Typ Mensch entdeckt: das Charlottenbürgersöhnchen.

Klimaflüchtlinge

In den Ländern des Nordens gibt es einen Schlag Menschen, der immerzu vom Süden schwärmt, von dem Licht, der Offenheit und den Menschen, von weißen Zähnen, schwarzen Haaren, scharfem Essen. Diese Menschen lieben es, niemals frieren zu müssen.

Die gleichen Menschen richten zu Hause kaum ein offenes Wort an jemanden und erwidern nur das Lächeln der geschäftigen und der betörenden Menschen. Diese Menschen lieben den Schweiß, diesen ewigen Begleiter im Süden. Sie sehen in ihm ein Zeichen ihrer Lebendigkeit, und nur so kennen sie die Wärme: als Hitze, die sie übermannt. Etwas anderes könnten sie nicht zulassen, heranlassen, und darin liegt ihre Tragödie; dass sie die offenkundige Wärme des Südens mit einer Zuneigung verwechseln, die schon lange nicht mehr ihn ihnen selbst wohnt.

Gäbe es einmal einen langen Winter im Süden, glänzten die Zähne immer noch weiß, wäre das dichte Haar immer noch schwarz, und die Klimaflüchtlinge aus dem Norden würden zwischen Schneeflocken schwitzen und sie würden merken, dass ihr Schweiß kalt war, von Anfang an.

Und das Prinzenpaar bleibt bis zum Schluss – Beim Seniorenfasching

Wenn wir 13 Jahre alt sind und es uns gelingt, uns den Weg in die Clubs zu lügen, dann schauen wir auf die Älteren, die nicht lügen mussten, um hereinzukommen und zwischen uns und ihnen liegen nur wenige Jahre und doch eine ganze Welt. Wenn wir 18 Jahre alt sind und nicht mehr lügen müssen und neuerdings in die angesagten Clubs gehen, dann sehen wir 30-Jährige und es ist etwas merkwürdig, denn zwischen uns und ihnen liegt noch eine ganze Generation. Wenn wir aber 70 Jahre alt sind, und zu einem Fasching gehen, dann treffen wir dort 87-Jährige und wir sind alle gleich, denn das Altern ist ein großer Befreier, das uns aus den Befangenheiten des Alltags löst.

So treffen sich die Herrschaften an einem Wochentag zum Seniorenfasching im Gemeinschaftshaus der Gropiusstadt zwischen grauen und nicht ganz so grauen Wohnhäusern. Sie haben sich für 15 Uhr verabredet, natürlich, denn das Altern nimmt uns auch die Pflicht immerzu strebsam und nüchtern zu sein, wenn die anderen in ihren Büros und Ämtern und Läden auch noch strebsam und nüchtern sind.

Vielleicht 100 Gäste sitzen an mehreren Tischreihen in diesem Haus, das eigentlich eine Halle ist. Um die Tische kreisen ein paar Mitglieder der Garde, die nachher mit Tamtam in den Saal einziehen werden. Sie schreiten in kleinen Grüppchen stolz auf und ab. Glöckchen an ihren Hüten bimmeln, Strass auf ihren Jacken glitzert und die Kümmerling-Flaschen klacken, wenn sie mit ihren Freunden anstoßen.

In den Winkeln und an den Wändern dieser kahlen Multifunktionshalle hängen große Papiersterne. Sie sind regenbogenfarben und gegenüber der Bühne lachen Masken. Statt Haaren kraulen sich Luftschlangen von ihrem Scheitel herab und auf der Bühne steht unter den Licht-Strahlern das Eberhard-Müller-Duo, das singen kann, aber manche Ton-Höhen nicht trifft.

Die Präsidentin der Garde, Frau Margot Hofmann, tritt an den Tisch der Ehrenamtlichen, die mittags die Sterne und die Masken aus dem Lager herangeschafft hatten. Sie bedankt sich mit einem feisten Lächeln und am Revers ihres Jacketts hat sie neun Anstecker von anderen Vereinen der Stadt hängen, neun allein aus diesem Jahr. Frau Hofmann warnt schon einmal, dass das Programm bis zur ersten Tanzpause noch etwas langweilig werde, weil es ja so schwer sei alle Leute zu kriegen, die seien ja alle berufstätig. Aber das Prinzenpaar, sagt Frau Hofmann, das bleibe wohl bis zum Schluss.

Die Herrschaften in der Halle finden es dabei nicht so schlimm, dass es Donnerstag ist und dass es etwas langweilig werden könnte und dass die Musiker nicht alle Töne treffen, sie streichen ihre Blusen glatt und straffen ihre Hemden. Sie fassen ihre Lieben an der Hand und schlängeln sich zwischen den Stühlen hindurch zur Tanzfläche, keiner beäugt sie dabei und dann tanzen sie, rot, rot, rot sind die Rosen, ganz langsam drehen sie sich umeinander und es werden immer mehr Paare. Alle kreisen um einen Mittelpunkt, den nur sie kennen und draußen zwischen den grauen Wohnhäusern kommen die Leute von der Arbeit heim und das Prinzenpaar, das bleibt bis zum Schluss.

Dieser Text erschien in Zitty, Ausgabe 25, in der Reihe: „Wir sind viele“, leicht verändert.

Anzüge zum Marschieren

Was die europäische Krise so verwirrend macht: Wenn ein junger Deutscher sich heute seine Stiefel eng und fest schnürt und seinen Rucksack packt, dann fragen sich die Anderen schlicht: Wohin will er wandern? Wenn er aber einen Anzug anlegt, seine pomadierten Schuhe bindet und sich einen Aktenkoffer greift, dann zittert der Kontinent: Wohin will er marschieren?

Jobwunder

In Deutschland müssen Jobwunder keine Menschen mehr ernähren. Diese Anforderung wurde mit einem amtlichen Federstrich als Teil eines neuen Maßnahmenpakets zum Bürokratieabbau abgeschafft. Regierungs-Schreiben, die Mitteilung von diesem Erfolg der Wirtschaftsförderung machen, wurden in den Redaktionen der Republik aufmerksam zur Kenntnis genommen und das entsprechende Vokabular bereits aktualisiert (Vgl. Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung vom 27.11.2013). Für die Regierung der BRD muss diese Maßnahme also als ein doppelter Erfolg angesehen werden. Wenn man die eingesparten Opportunitätskosten im Vergleich zu den alten Anforderungen betrachtet, entsteht eine Win-Win-Situation für Staat und Bürger. Im Lichte dieses Ergebnisses ist eine Durchführung dieser Maßnahme auch in den Ländern Südeuropas angezeigt.

Wir waren perfekt, mit nur einem Makel

Sie berechneten, was unserem Geist zugeführt werden muss und prüften die Lehrer und ihre Bücher und sie legten uns eine Liste vor: „Das sind die besten Universitäten des Landes.“ Dort formte man uns zu Einkäufern der Liebe, Ingenieuren von Freundschaften und Werbefachmännern der Seele. Wir gingen ab und waren geschult für diese Welt, waren die Besten und Klügsten, sie hatten sich einen neuen Menschen erschaffen; und wir produzierten, justierten, bilanzierten, wir waren perfekt, mit nur einem Makel: Wir weigerten uns beharrlich, Kinder zu bekommen.

(In den Nachrichten heißt es: „Deutschland gehört zu den zwölf EU-Mitgliedstaaten, in denen im Jahr 2012 mehr Menschen starben als lebend geboren wurden.“)

Schwarz-Weiß-Rotes Nationaltrikot – kann man ja mal machen

Das kann man machen: Man kann das neue Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft in jenen Farben halten, mit denen schon die Truppen des Norddeutschen Bundes 1870 die Franzosen bei Sedan schlugen, und die Sturmgeschütze des Kaisers beflaggt waren als sie in den Gräben an der Marne aufgehalten wurden und in jenen Farben, die das Reichsflaggengesetz vom 15. September 1935 als die Reichsfarben definierte. Schwarz-Weiß-Rot, das kann man natürlich machen, weil da ist ja noch dieser schmale golden-silbrige Streif auf der Brust, man muss aber eigentlich sagen: am Horizont. Und überhaupt, da ist ja nichts dabei. Es ist ja nur Fußball, so wie der Elfmeter von Andy Brehme 1990 einfach nur irgendein Elfmeter war und die WM 2006 einfach nur irgendein Sportereignis in Deutschland. Dann kann man das ja machen.

Bildquelle: DFB/adidas

Selbstzerstörung im Autopilot – 5 Zeichen, dass die US-Macht gerade implodiert

Viel Tinte wurde schon verbraucht, um den vermeintlichen Abstieg der USA zu beschreiben. Viele Analysen stützten sich dabei auf das Unvermeidliche: den Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens. Die USA verlierten ihre Macht relativ zu anderen Ländern, nicht absolut. Im Moment ändert sich das. Die Vereinigten Staaten büßen an substantieller Kraft ein. Das ist nicht unvermeidlich, das ist ein hausgemachtes Problem. „Selbstzerstörung im Autopilot – 5 Zeichen, dass die US-Macht gerade implodiert“ weiterlesen

grandma

Oma

grandma

Oma, Amsterdam, Oktober 2013

Kommen Sie gut hier raus – Ansichten eines jungen Wählers

Werte Herren und Damen!

In den letzten Jahren ist es unter Ihresgleichen hip geworden, junge Menschen wie mich zu beschimpfen: saturiert sei ich, langweilig, unpolitisch, so viel pragmatischer als die Ältesten der Alten, so viel schlechter als Sie.

Es ist Wahlwochende und ich antworte ihnen heute auf diese Vorwürfe. Ich brauche gar nicht besonders originell zu sein, denn alles, was ich gleich sagen werde, werden Sie sowieso zum ersten Mal hören – obwohl ich schon öfter versucht habe, mich zu erklären.

Bitte verzeihen Sie übrigens diese Schnippigkeit. Es ist nur so: Sie leben in ihrer Welt da oben und aus der luftigen Höhe, so scheint es mir, sind wir Jungen unten auf der Straße manchmal schwer zu verstehen. Also begreifen Sie meine Rede als Chance. Auch ohne Hörgerät können Sie heute einmal mitbekommen, was Ihre Kinder und Enkel eigentlich denken. Aber es bleibt Ihre Entscheidung. Sie können auch gehen und, wenn wir dran sind, die Welt zu bebauen, werden Sie sich umschauen und die Heimat suchen in diesem neuen Land, das Sie nicht kommen sahen.

Sie also, meine Damen und Herren, bezeichnen mich als unpolitisch, als langweilig, als jungen Menschen, der nicht für seine Ideale kämpft. Ach, Sie werden sogar noch unverschämter: Sie sagen, dass ich überhaupt keine Ideale mehr hätte, ganz anders als Sie natürlich. Denn als Sie jung waren, da haben Sie sich jedes Wochenende im orangen Schein der brennenden Barrikaden aufs Neue überlegt, wie Sie heute die Welt retten werden. Ich ginge ja kaum alle vier Jahre wählen, sagen Sie. Und als wäre das alles nicht anmaßend genug, werfen Sie mich in einen Kessel mit meinen Freunden, rühren einmal kräftig und bezeichnen das undefinierbare Etwas, zu dem wir in diesem Kessel verschmelzen, als “Generation Y” oder “Generation Narzissmus”.

Ja, Sie, meine Damen und Herren, sind so gut darin, dass inzwischen schon wir selbst anfangen, uns solche albernen Schilder auf die Stirn zu packen als wäre unser Leben ein langes “Wer-bin-ich-Spiel”. Es war einer von uns, der uns die “Generation Maybe” nannte. Ausgangspunkt dieser Scharlatanerie war übrigens eine Werbung von Marlboro. Generationbeschreibung durch Zigarettenwerbung!

Irre sind Sie doch. Ihr kritisiert uns? Ihr habt uns doch groß gezogen!

Sie, meine Damen und Herren, tun aber so als hätte sich die Welt nicht weitergedreht, als wären Mauerfall, Breaking Bad, China-Aufstieg, Internetentwicklung, MDMA, Piratenpartei und Yes-We-Can niemals passiert. Erkennen Sie doch einmal an, dass wir nicht mehr damit rechnen müssen, dass bald sowjetische Panzerverbände über die norddeutsche Tiefebene gen Paris vorstoßen, dass das Bild vom großen, heiligen Westen im Kalten Krieg ja ganz nützlich war, aber jetzt nichts mehr taugt. Hier Demokratie, dort Kommunismus, hier Kapitalismus, dort Planwirtschaft, Freiheit versus Folter. Vietnamkrieg, Che Guevara und das Nixon-Arschloch. Meine Damen und Herren! Solche Entscheidungen hätte auch jeder von uns aus der – ich sage es gern nochmal, weil dumme Dinge sollte man wiederholen, um die Peinlichkeit für den Urheber maximal zu vergrößern – solche Entscheidungen hätte auch jeder von uns aus der “Generation Maybe” treffen können.

Wie pflegten Sie zu solchen Dingen früher zu sagen: „Das ist ja keine Raketenwissenschaft.“ Es sagt übrigens sehr viel aus, dass gerade der Bau von Raketen bei Ihnen als Metapher für etwas richtig Kompliziertes herhalten musste.

Und wenn Sie jetzt nicken, weil Sie damals auch jung waren, aber Krawatte und Hut statt buntes Indienband und Blume trugen, weil Sie dieser ganzen linken Sache nichts abgewinnen konnten und die Junge Union nett fanden, weil man bei den Veranstaltungen der Union jungen Damen frisch und frei seine Tanzkarte anbieten konnte – dann hören Sie sofort auf zu nicken. Sie sind nur die andere Seite der gleichen, abgegriffenen Medaille.

Fragen Sie sich lieber einmal: China oder Brasilien? Indien oder Multikulti-Amerika? Mehr Europa oder Kiezromantik? Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. Und die wir jeden Tag beantworten wollen.

Sie bekommen das bloß nicht mit, weil Sie ihren Kopf in alte Fotoalben versenkt haben und von der guten alten Zeit träumen, die doch eh immer nur einen Punkt in der Vergangenheit definiert, der niemals existiert hat.

Es ist ganz einfach: Sie glauben, dass wir unpolitisch wären, weil Sie unsere Politik nicht verstehen. Sie stellen die falschen Fragen in ihren Ferndeutungsorgien. “Euro-Krise, Klimawandel, NSA – warum geht ihr eigentlich nicht demonstrieren?”, fragen Sie oder Ihre willfährigen Schreiberlinge. Und dann kommen Philister und Zeitdeuter auf die großartigsten Theorien, um das zu erklären und die wirkliche, echte, richtige Antwort, die kennt Ihr, aber die wollt ihr nicht hören, die kann man nicht schreiben, die ist so schockierend wie einfach: Weil ich nicht glaube, dass diese Themen wichtig genug sind, um meinen Arsch für sie ins Feuer zu halten.

Ja! Sie haben richtig gehört. Es ist mir egal.

Ich sage Ihnen, wir werden nicht in Amerika einmarschieren, weil ein paar Schlapphüte neues Spielzeug entwickelt haben. Wir mögen Amerika, seine Serien, dass dort ein Schwarzer Präsident werden kann. Ich bin überzeugter Transatlantiker, gerade, weil ich mich frei dafür entscheiden konnte und nicht wie Sie, meine Damen und Herren, von den Bajonetten des Warschauer Pakts dorthin getrieben wurde.

Dass Sie Griechenland die Euro hinterher geworfen haben, ist auch nicht mein Problem. Die Erdatmosphäre heizt sich auf, weil Sie schon seit 50 Jahren mächtige Autos bauen, kaufen, fahren, verkaufen, verschrotten und mit so einem lächerlich dummen Kreislauf Ihr leeres Leben füllen müssen. Seien Sie mutig: Nehmen Sie doch einfach mal das Rad.

Und bitte glauben sie nun nicht, dass ich nicht wählen gehen würde, dass ich zu diesen eitlen Schmarotzern gehören würde, die zwar den Frieden und die Freiheit der Demokratie genießen, aber nicht ihre großartige Mittelmäßigkeit. Solche Salonphilosophen glauben, dass sie größer wären als die Demokratie. Sie sind damit elende Steigbügelhalter des Nichts. Sie halten ihrem Geist für zu brillant und einzigartig und ironischerweise blitzt darin die ganze einsame Kleingeistigigkeit dieser Menschen auf. Denn sie lesen nichts anderes als ihre eigenen Pamphlete und hören nichts anderes als ihre eigene Stimme und, wenn sie in die Welt schauen, sehen sie nur ihren eigenen Schatten.

Diese Nichtwähler ähneln Ihnen übrigens erstaunlich stark.

Ja, ich gehe wählen. Aber nehmen Sie das nicht als Absolution. Ich wähle aus Demut vor einem System, das mir die Welt darbietet wie ein weißes Blatt. So ein System ist unerhört in der Geschichte. Dieses System gehört mir, ich muss mich darum kümmern. Mit Ihnen hat das nichts zu tun.

Ach, wenn Sie nur soviel von mir wüssten wie ich von Ihnen. Ich komme schließlich nicht umhin, alles von Ihnen zu wissen. Denn sie sind ja überall und plappern ständig und richten und wollen zeigen, wo es langgeht zur Zukunft und merken gar nicht, dass das alles ein ewiges nutzloses Selbstgespräch ist, ein Kreisgelaber, noch dümmer als die Sache mit Ihren Autos.

Ich sehe keine brennenden Barrikaden, ich sehe meine Altersgenossen auf Wiesen liegen, in alten Nudelfabriken tanzen, sehe sie lachen, flirten, streiten, küssen, kotzen, singen, erschaffen.

Ich sehe die Welt anders.

Das können Sie, meine Damen und Herren, nicht akzeptieren. Das ist das Problem. Ich spüre, dass die Welt unruhig geworden ist. Die Welt zittert und das waren Sie. Und da halte ich still und atme lieber das Zittern weg. Denn beim letzten Mal als die Welt so stark vibriert hat, rannten die Jungen mit Hurra in den Großen Krieg. Die besten Köpfe dieser Generation damals wollten Krieger sein und die Welthebel umwerfen, alles neu stellen und verreckten in den Gräben Verduns.

Nein. Diese Fragen haben Sie gestellt, die müssen Sie auch beantworten.  Ich stelle andere Fragen. Ich stelle mir die größten von allen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?

Und: Wo ist meine Zukunft?

Ihr habt mir erzählt: Gute Abschlüsse, viele Sprachen, Praktika hier und dort; dann wird das schon. Habe ich alles gemacht, ich Soldatenkind. Und es wurde aber nicht. Sie, meine Damen und Herren, machen mich nun zum Schuldigen und sagen: Ändere dich! Als hätte ich das nicht schon die ganze Zeit getan. Es reicht.

Ihr habt diese Welt verkommen lassen, ihr müsst sie jetzt reparieren.

Denn in Wahrheit sind Sie die selbstverliebten Narzissten, nicht wir. Rente unsicher, Schulden zuhauf, zerfallende Schulen, bröckelnde Infrastruktur. Sie machen nichts. Sie sonnen sich nur in ihrem ach so großartigen Leben und ich bin es leid, das zu schlucken, nur weil Sie uns Arbeit geben. Wenn es denn welche gibt.

Ich sehe Ihre ungläubigen Gesichter. Sie hatten erwartet, dass ich Ihnen nun eine Vision auftische, komplett mit Gesellschaftsstruktur und vorbeschrifteten Aufklebern. Sie wollten ein Bild von diesem neuen Land, das wir bauen werden und Sie wollten hören, wie ich Sie höflich bitte, mich doch auch einmal etwas sagen und zeigen zu lassen – an ihrer statt, nur kurz, damit ich weiß, wie es sich anfühlt.

Ich sehe: Sie haben immer noch nichts verstanden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Kommen Sie gut hier raus.

X

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Dieser Text steht unter einer CC-Lizenz. Ihr dürft ihn auf eurer Seite verwenden, übersetzen und weiterverbreiten, wenn ihr mich als Verfasser nennt.

Bild 1: Caspar David Friedrich – Wanderer ueber dem Nebelmeer. Bild 2: Szene aus Django Unchained

#1:
In einer frühreren Fassung hatte ich explizit auch Merkel und Steinbrück zu Beginn angesprochen. Das habe ich gestrichen, weil es in die Irre führte. Es geht nicht um Merkel und Steinbrück. Es geht um mehr.

uwe behrens berlin mordkommissar tatort schauen

Tatort Berlin – dieser Mann ist ein echter Mordermittler

uwe behrens berlin mordkommissar tatort schauen Das ist Uwe Behrens. Er schaut gerade in der Kreuzberger Kneipe Yorckschlösschen den neuen Berliner Tatort „Gegen den Kopf“. Behrens schaut eigentlich keinen Tatort, früher mal, ja, als Schimanski noch im Ruhrpott ermittelte, das hat er gesehen. Aber heute lieber andere Serien. Und als er noch ein Kind war, gab es für ihn nur einen Pflichttermin: Aktenzeichen XY … ungelöst. „Das war wohl prägend“, sagt er. Denn Behrens ist Ermittler bei der fünften Berliner Mordkommission.

Er hat direkt nach dem Abitur bei der Polizei angefangen. Das war im Oktober 1987. Drei Jahre dauerte seine Ausbildung, er war in verschiedenen Bereichen eingesetzt, etwa in der Betrugs-Abteilung. „Da habe ich so spannende Sachen gemacht wie Konkurs-Verschleppung“, sagt er ironisch. „Das war gar nicht mein Ding“. Für Behrens gab es da viel zu wenig Ermittlungen draussen in der Stadt, zu wenig Vernehmungen. „Wir sind mit Kohorten von Steuerberatern gekommen, um Akten meterweise einzusammeln“. Nicht so spannend. Deswegen ab ins Mord-Dezernat. Seit 20 Jahren arbeitet er nun dort und es gab einen Fall, den er nicht vergessen kann.

Er war noch ganz neu bei der Kripo, da marschierte im Februar 1993 ein Mann in ein Autohaus am Tempelhofer Ufer, ging ins Büro, zog eine abgesägte Schrotflinte heraus und erschoss Doris Kirche, die seit 25 Jahren dort arbeitete. Kirche war eine unauffällige Mit-Fünfzigerin, sie arbeitete tadellos. Behrens und seine Kollegen wussten nicht, warum sie jemand hätte umbringen wollen. Sie suchten jahrelang nach Hinweisen. Behrens sagt: „Irgendwann war es mir fast egal, wer sie erschossen hat. Ich wollte nur noch wissen, warum diese Frau sterben musste.“ Fünf Jahre später kommt der entscheidende Hinweis. Die Täter werden verhaftet. Die Frau musste sterben, weil sie ihre große Wohnung in Wilmersdorf nicht aufgeben wollte. Der Immobilien-Makler Eberhard H. hatte den Mord in Auftrag gegeben. Würde in einer Tatort-Folge so ein Plot auftauchen, wir würden sagen: „Das ist ja Quatsch.“ Aber so banal kann das echte Morden sein. Und vielleicht eignet sich der Fall ja für einen Tatort über Gentrifizierung.

Den neuen Tatort findet Behrens übrigens „handwerklich gut gemacht“. Er findet sich und seine Polizeiarbeit darin wieder. Aber zum Tatort-Fan wird er nicht mehr. Er schaut lieber Dexter. Darin spielt ein Mordermittler die Hauptrolle, der tagsüber die Mörder fängt und nachts selbst Menschen tötet.

Merkel und Obamas Syrien-Pläne – als hätte es den Kosovo-Krieg nicht gegeben

Deutschland stützt den Syrien-Kurs von Barack Obama nicht. Angela Merkel hat das entsprechende Positionspapier als einzige europäische Staatschefin nicht unterzeichnet. Spiegel Online schreibt (ohne Autorenkennzeichnung):

„Offenbar hatte Merkel erwartet, dass auch andere Europäer nicht unterschreiben würden. Sie will zunächst eine gemeinsame Haltung der Europäischen Union finden, so heißt es aus der Bundesregierung.“

Merkel wusste nicht, wie Deutschlands Bündnispartner zu Syrien stehen, obwohl es in den letzten Tagen kein anderes Thema gab und klar war, dass Syrien beim G-20-Gipfel eine Rolle spielen wird. Wenn das stimmt, dann – egal, was inhatlich beschlossen wurde – ist das schlechtes Handwerk. Ein Anfängerfehler im 8. Jahr der Kanzlerschaft.

Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Merkel das Papier aus wahlkampftaktischen Gründen nicht unterschrieben hat – und der Verweis auf die Europäische Union nur eine Finte ist, um davon abzulenken. Sie wird nicht vergessen haben, wie die Deutschen sie kritisierten, als sie den Irak-Krieg der USA unterstützte.

Auf Zeit Online tobt Politik-Chef Bernd Ulrich. Er sieht in der Syrien-Entscheidung den „Tiefpunkt von Merkels Kanzlerschaft“:

Ein begrenzter militärischer Einsatz, an dem man nicht mal teilnehmen muss, ausgeführt durch einen alles andere als kriegslüsternen Präsidenten, gerichtet gegen ein evidentes Verbrechen – einfacher kann man es nicht haben, einen Bündnispartner zu unterstützen. Dass Angela Merkel sich trotzdem verweigert, weil sie im Wahlkampf ist, markiert den bisherigen Tiefpunkt ihrer Kanzlerschaft. Glaubt sie eigentlich, dass Deutschland nie mehr Freunde brauchen wird?

Der erste Kommentar unter dem Artikel übrigens:

Ich finde, die Kanzlerin hat das einzig Richtige getan, egal, wie sich Opportunisten entscheiden. Meinen Respekt hat sie dafür.

Diese Diskussionen erinnern stark an 1998 als Deutschland mit sich gerungen hat, ob es sich am Krieg gegen Serbien beteiligt, um die ethnischen Säuberungen im Kosovo zu stoppen. Nur, dass wir jetzt 2013 haben.

NACHTRAG, 7.9.2013, 17 Uhr.

Deutschland will die Syrien-Erklärung nun doch unterschreiben. Das hat Guido Westerwelle erklärt – und dabei nocheinmal bekräftigt, dass Deutschland eine gemeinsame Haltung der EU abwarten wollte. Die EU-Regierungen forderten die USA auf nicht anzugreifen, ehe die UN ihren Bericht abgeliefert haben.

Die Erklärung hat Augen Geradeaus.

Bildquelle: Flickr

Außenpolitik-Bingo zum TV-Duell

Witzige Idee des IR-Blogs für das TV-Duell zwischen zwischen Steinbrück und Merkel.

Hier gibt es das Bingo-PDF zum Herunterladen.

So einen Zettel kann man auch selbst herstellen:

lkw der bundeswehr im frühjahr 2013 in kahramanmaras, türkei, teil des patriot-kontingentes der nato

Warum Deutschland bei einem Angriff auf Assads Syrien dabei sein wird

lkw der bundeswehr im frühjahr 2013 in kahramanmaras, türkei, teil des patriot-kontingentes der nato

Die USA verstärken ihren Druck auf Syrien, gerade hat ihr Außenminister John Kerry gesagt, dass die USA Beweise für einen Giftgasangriff hätten. Die Militär-Planer feilen wohl schon an der Einsatz-Strategie. Und Deutschland wird dabei sein.

Der LKW oben im Bild ist gewissermaßen der Grund. Denn er ist Teil des deutschen Patriot-Abwehrraketen-Kontingentes in Kahramanmaras, in der Süd-Türkei. Ich hatte die deutschen Truppen dort im April besucht und mir die strategischen Hintergründe des Einsatzes angeschaut: Er dient vor allem der Beruhigung der Türkei, die Assad schon lange stürzen will. Die Bundesregierung betonte allerdings immer wieder, dass der Einsatz rein defensiv sei. Aber schon damals war klar:

Entscheidend dürfte jedoch nicht sein, was die Deutschen sagen, sondern wie das Regime den Nato-Einsatz auffasst. Assads Flugzeuge flögen seit der Stationierung der Patriot-Batterien „in regelmäßigen Abständen“ auf die Grenze zu, berichtet Marcus Ellermann [Der Kommandant – R.G.]. Abfangjäger stiegen auf und erst kurz vor türkischem Gebiet würden die Syrier dann wieder abdrehen. „Sie testen unsere Alarmreaktion“, sagt Ellermann dazu. Das ist eine militärisch korrekte Beschreibung durch den Kommandanten. Das politische Signal ist allerdings ein anderes: Assad zeigt damit in regelmäßigen Abständen den Nato-Truppen den Mittelfinger.

Sollte Assads Regime angegriffen werden, unter Nato-Kommando oder durch einen losen Koalitions-Verbund von USA, Großbritannien, Türkei, vielleicht Frankreich, dann wird Baschar al-Assad keine Unterscheidung machen zwischen den direkten Angreifern und ihren Verbündeten – und vor allem nicht zwischen türkischen Soldaten auf türkischem Boden und deutschen Soldaten auf türkischem Boden.

Der einzige Ausweg wäre der Abzug der deutschen Patriot-Truppen, aber das kann sich Deutschland nach seiner sachlich wohl begründeten, aber bündnispolitisch katastrophalen Enthaltung in der Libyen-Frage nicht mehr leisten. Deswegen gibt es für Angela Merkel kein „Syrien-Dilemma“ wie Hans Monath im Tagesspiegel schreibt.

Deutschland wird dabei sein, weil es längst dabei ist.

john dyke singer songwriter australia melbourne germany dyko berlin

John Dyke, ein australischer Sänger in Berlin

john dyke singer sänger songwriter australia melbourne germany dyko berlin

Das ist John Dyke. Er wuchs in Melbourne, Australien, auf und lebt nun als Sänger in Berlin. Das wäre gar nicht so besonders in dieser Künstlermetropole, wenn er nicht absolut fehlerfrei auf Deutsch singen und in einem Reihenhäuschen mitten in Berlin-Friedrichshain wohnen würde, mit Frau und Kindern und Gartendusche (siehe Foto).

Deutsch hat sich John Dyke mit alten Sprachkassetten aus den 70er-Jahren selbst beigebracht. Wer diese Videos sieht, muss sich wundern, dass er danach Deutschland überhaupt noch Ernst nehmen konnte. Als er vor 20 Jahren hierher kam, ging er in eine Bar. Er sagt: „Ich fand es einfach geil, dass man hier ein Bier bestellt und ein Strich auf dem Bierdeckel gemacht wird. Die Leute haben einem vertraut. In England etwa wäre das unvorstellbar.“

John Dyke war fasziniert von Deutschland, von der Band Kraftwerk. Er hat beim Schlagzeugmacher Sonor in der sauerländischen Provinz gearbeitet. Und das mit dem Deutsch und der Alltagskultur macht er so gut, dass er inzwischen eine Art Sonderbotschafter des Goethe-Instituts geworden ist. Da tritt er dann in New York oder in Usbekistan auf und singt solche Lieder:

vorort

ich bin sauer auf die stadt
mein leben hab ich satt
kann wieder schreiben oder lesen
was für ein geiles wesen

ich lebe in einem heim
mein gefühl ist: ganz allein
ich lebe in meinem vorort
und nichts passiert dort

nichts passiert dort
nichts passiert dort
nichts passiert dort

vorort vorort vorort
ich bin gefangen in meinem vorort
ich bin gefangen in meinem vorort
nichts passiert dort
ich bin gefangen in meinem vorort

omi ist gestorben
das hat alles verdorben
ich werd‘ alles erben
dann wird ich hier sterben

ich schau immer gloze
auf die schönheit könnte ich kotzen
mach die glotze aus
geh aus dem vorort raus
geh aus dem vorort raus

vorort vorort vorort
ich bin gefangen in mein vorort
ich bin gefangen in mein vorort
nichts passiert dort
ich bin gefangen in mein vorort baby

ich fühl mich nicht wohl
ich fühl mich ganz klein
muß mich ausdrucken
dann fühle ich mich fein

ich bin gefangen
ich bin gefangen

vorort……..
vorort……..
merhaba nachbar jetzt bin ich dort

Screenshot Quentin Tarantions "Django Unchained" USA Germany Essay Slavery Holocaust

Schuld und Sühne, Sklaverei und Holocaust

Screenshot Quentin Tarantions "Django Unchained" USA Germany Essay Slavery Holocaust

Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forums in Potsdam, hat für das Aeon Magazine einen sehr interessanten Essay über Sklaverei in den USA und Vergangenheitsbewältigung in Deutschland geschrieben.

History and guilt

Can America face up to the terrible reality of slavery in the way that Germany has faced up to the Holocaust?

Ausgehend von Django Unchained, dem Anti-Sklaverei-Western von Quentin Tarantino (Affiliate Link), fragt sie sich, ob die USA in der Lage wären die gleiche Form der Vergangenheitsbewältigung durchzuführen wie wir Deutschen. Tarantino hatte bei der Deutschland-Premiere des Films selbst Sklaverei und Holocaust gleichgesetzt. Neiman schreibt:

Germans have been wrestling with the question of history and guilt for more than 60 years now. Their example makes clear just how many moral questions a serious contemplation of guilt must raise for America. These include what constitutes guilt, what constitutes responsibility, and how these are connected. A common slogan of second-generation Germans has been: ‘Collective guilt, no! Collective responsibility, yes!’ But the question of what responsibility entails has been politically fraught. Does taking responsibility for a violent history demand an eternal commitment to pacifism? Or to supporting the government of Israel whatever it does, as some argue? Or rather to supporting the Palestinian people whatever they do, as others have claimed?

Das sind starke Fragen für uns Deutsche, gerade für uns jungen der 3. Generation (ich bin 26 Jahre alt). Neiman zieht Vergleiche zu den USA, die diese Fragen nicht gestellt haben, obwohl es noch gar nicht so lange her ist, dass Schwarze in amerikanischen Bussen hinten sitzen mussten.

Ich glaube aber, dass der Fokus auf die USA noch zu kurz greift. Die Fragen müssen sich viele stellen: US-Amerikaner, Franzosen, Australier, Israelis, Türken, Iraker, Kurden, Chinesen. Denn – ohne dabei die spezifischen Bedingungen der verschiedenen Ereignisse in Frage stellen zu wollen – komme ich auf kein Land, das nicht an irgendeinem Punkt seiner Geschichte die Rechte anderer Völker mit Füßen getreten hat. (Falls euch eines einfällt, lasst es mich wissen.) Den anderen Menschen Leid zuzufügen scheint eine Konstante von Völkern, Nationen, Ländern zu sein.

Wenn man versucht, das zu begreifen, zu verstehen, dass es keine „gute Nation“ geben kann, „kein Licht der Heiden“, kein „God’s own country“, dass Nationen immer gleichzeitig gut und schlecht sind – dann wird es zu einer Lehrstunde in Demut, die man weder vergessen kann noch ignorieren. Deswegen ist Aufarbeitung so wichtig.

Foto: Szene aus „Django Unchained“: Leonardo di Caprio als ruchloser Sklavenhalter

Gunter Voelker, owner of "Deutscher Hof" Erbil, Irak

Gunter, deutscher Koch im Irak

Gunter Voelker, owner of "Deutscher Hof" Erbil, Irak

In dem großartigen Hamburg-Epos „Soul Kitchen“ gibt es eine Szene, in der ein Koch kündigt, in dem er mit seinem Messer einen Zettel an die Restaurant-Tür nagelt. Auf dem Zettel steht: „Der Reisende ist noch nicht am Ende, er hat das Ziel noch nicht erreicht.“

Dieser Koch könnte Gunter sein. Er betreibt ein deutsches Restaurant im Irak, genauer: in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Region Kurdistan. Als ich nach mehr als einem halben Jahr im Nahen Osten bei ihm ein Bier bestellte, war das ein bisschen als würde ich zurückkehren in die Welt, in der ich aufgewachsen bin. Seine Speisekarten waren schwarz, ein buntes, vertrautes Logo darauf. Die Brauerei, die sie geliefert hatte, habe ich oft gesehen, wenn ich als Junge mit meinen Eltern einen Fahrradausflug gemacht habe. Das Essen, das er anbietet, kannte ich von meiner Oma.

Gunter kommt aus Tabarz, einem Örtchen in Thüringen, dem gleichen Bundesland, aus dem ich auch stamme. Dass er mal Thüringer Klöse im Irak kocht, war alles andere als klar als er im Herbst 1989 einmal „spazieren“ ging, also demonstrieren war. Zur Rache berief ihn die DDR-Regierung in die Nationale Volksarmee ein, ein paar Wochen später fiel die Mauer und Gunter fand sich in einer Armee wieder, die gerade noch den Klassenfeind im Westen bekämpfen sollte, aber nun dabei war, die Vereinigung mit der Bundeswehr zu vollziehen. Gunter blieb. Er machte das, was er gelernt hatte. Er kochte. Auf dem Balkan, dann in Kabul – dort schließlich eröffnete er seinen ersten Deutschen Hof. Es lief gut bis es zuviele Anschläge gab. Gunter schloss ab und flog nach Hause. 30.000 investierte Euro waren weg. Neuer Versuch in Erbil, Irak. Bald auch auf Sri Lanka.

Als ich mit Gunter sprach, merkte ich, dass er nicht wieder in Deutschland leben kann. Draußen in der Welt, da kann er wer sein. In Deutschland wäre er nur ein ehemaliger Bundeswehr-Koch. Als ich ihn nach Deutschland frage, fragt er zurück: „Was will ich denn da?“

thomas w. bundeswehr active fence syrien türkei patriot 2013 april

Thomas W.

thomas w. bundeswehr active fence syrien türkei patriot 2013 april

Das ist Thomas W.  Er ist einer von 300 Bundeswehr-Soldaten, die zu der Nato-Mission „Active Fence“ in der Südtürkei gehören.  Dort sollen sie die Zivilbevölkerung gegen Raketenangriffe aus Syrien schützen, ihr eigentlicher Gegner ist aber ein anderer: die Langeweile.

Lest meine Reportage über die deutschen Truppen in der Türkei hier.

Von Deutschland nach Kurdistan – Reich des Geistes

Vor genau 80 Jahren verbrannten die Nazis Bücher in ganz Deutschland. Sie verbrannten Werke von Erich Maria Remarque, Erich Kästner, Sigmund Freud, Kurt Tucholsky, Karl Marx, um nur wenige zu nennen. Es war ein Menetekel, typisch für die einfallslosen Diktaturen: Erst wollten sie die Ideen vernichten, dann die Menschen dahinter.

In Sulaymania, Irak, wurde ich an die brennenden Stapel von Büchern erinnert. Ein kurdisches Musiker-Paar zeigten mir diese deutsche Doktorarbeit. Saddam Hussein hatte das Buch verboten, dem Paar gelang es trotzdem eine Ausgabe aus Beirut zu beschaffen. Ein bemerkenswerter Aufwand für eine Doktorarbeit aus den 1960er Jahren, die sie nicht lesen können, weil sie kein Deutsch können. Sie gingen ganz liebevoll damit um. Es war das Symbol ihrer Herkunft und Geschichte.

Saddam Hussein ist gescheitert, die Nazis sind gescheitert. Das Reich des Geistes ist stärker als das Dritte Reich jemals war oder irgendein brutales Regime jemals sein wird. .

Portrait of a Kurdish Peshmerga who fought 2003 in Operation "Enduring Freedom"

Wie ich einen Peschmerga in einem irakischen Taxi traf

Portrait of a Kurdish Peshmerga who fought 2003 in Operation "Enduring Freedom"

Halmat traf ich an einer staubigen Taxihaltestelle in Koia. 2003 kämpfte er während der Operation „Enduring Freedom“ an der Seite der Amerikaner in Kirkuk. Heute ist er der Bodyguard des Vize-Premierminister Kosrat Rasul, einem viel gerühmten Guerillakrieger, der der „kurdische Che Guevara“ genannt wird. Halmat ist ein Peschmerga, Mitglied der legendären kurdischen Guerilla-Armee.

Er sprach nur Kurdisch und Arabisch, ein bisschen Farsi; ich nichts davon. Er zeigte mir seinen Dienstausweis, auf dem stand alles in feinstem Englisch – Spuren der amerikanischen Besatzung. Daher weiß ich das alles.


Route nach Sulaymaniyah, Irak auf einer größeren Karte anzeigen

Halmat und ich teilten uns ein Taxi nach Sulaymaniah im Osten Kurdistan. Nachdem wir in der Stadt angekommen waren, suchte ich dort mein Hotel. Halmat wollte helfen, verstand aber nicht, wohin ich wollte. Da reichte er mir wortlos ein Telefon. Am anderen Ende sagte jemand auf Deutsch: „Hallo? Alles klar?“, im Hintergrund klingelte eine Ladenkasse. Die Stimme dirigierte uns schließlich zum Hotel. Es war Halmats Bruder, der in Aachen ein Geschäft hat. Der Bruder sagte schließlich: „Du, ich muss los. Der Laden ist voll, du weißt ja, wie die Samstage in Deutschland sind.“ Oh ja, das weiß ich.

Jetzt weiß ich aber auch, wie die Samstage in Kurdistan sind.

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Warum wir auf den Nahostkonflikt starren

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Über Israels Koalitionsverhandlungen lesen wir alles, über die Millionen Tote im Kongo gar nichts. Der Nahostkonflikt ist die Obsession des Westens. Ein Erklärungsversuch. „Warum wir auf den Nahostkonflikt starren“ weiterlesen