Ein großes Narrenwerk – Über „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace

Das Werk, das den Titel Unendlicher Spaß trägt, umfasst 1410 Seiten und 388 Fußnoten. Sein zentrales Thema ist die Sprachlosigkeit. Niemand würde zu viel riskieren, wenn er es deswegen für das Werk eines großen Narren hält, vermutlich auch für das größte Narrenwerk unserer Epoche.

Der Legende nach genossen die Narren an den Königshöfen des Mittelalters die Freiheit, jede Wahrheit ansprechen zu dürfen, solange sie in Witzen und Pointen gewandt daherkam. Der Narr konnte sich so ungeheure Anmaßungen König und Hofstaat gegenüber erlauben, weil niemand im Zweifel Ernst nehmen musste, was er sagte. Schließlich sei das alles ja nur ein Spaß gewesen. Ähnlich verhält es sich mit diesem Buch von David Foster Wallace. Es ist so dick, dass es potentielle Leser für einen schlechten Scherz halten wollen, und es nicht anrühren, obwohl es in diesem Buch tatsächlich einmal um etwas geht. Dieses Buch hat ein dringendes Anliegen, es will nicht einfach eine „gute Geschichte“ erzählen. Dringlichkeit ist selten geworden.

Foster Wallace berichtet in Unendlicher Spaß in lose verbundenen Episoden vom Da-Sein der Menschen von Boston, Massachusetts. Die Handlung war bei dessen Erscheinen 1996 leicht in die Zukunft versetzt. Die Interpreten sagen, dass die Geschichte hauptsächlich in den Jahren 2008 bis 2010 spielt. Wallace‘ zentrale Orte sind eine Tennisakademie auf einem Hügel und eine Suchtklinik am Fuß des Hügels. Es gibt unzählige Hauptfiguren. Aber die Wichtigsten sind: der 17-Jährige Hal Incandenza, Grammatikass und Tennis-Hoffnung, sein Vater Jim, der die Tennisakademie gegründet hatte, sich danach als Avantgarde-Filmer versuchte und schließlich Selbstmord beging, indem er seinen Kopf in die Mikrowelle steckte; Mario Incandenza, Bruder von Hal, kam schwer behindert zur Welt und war der Assistent von seinem Vater Jim. Zuletzt: Joelle van Dyne, Muse von Jim, so schön, dass sie entstellt ist. Sie trifft im Laufe des Buches Don Gately, einen Junkie, der sich durch Einbrüche seine Drogen finanziert und verliebt sich in ihn. Diese Auswahl ist bis zu einem gewissen Grad zufällig, da das Buch auf verschiedenen Ebenen gelesen werden kann und sich entsprechend auch die Bedeutung der Menschen darin ändert, ihnen ist aber gemein, dass sie die Eckpunkte eines Fünfecks sind, in dem sich die Bedeutung von Unendlicher Spaß kristallisiert.

Denn Hal leidet darunter, dass sein Vater Jim ihm so fremd war und sie kaum ein offenes Wort miteinander gesprochen hatten. Er wird süchtiger Kiffer. Sein Vater Jim litt auch darunter, wusste aber keinen Weg, er trank und begann Filme zu drehen, mit denen er seinen klugen Jungen Hal erreichen wollte. In einem dieser Filme ist die wunderschöne, rothaarige Joelle van Dyne Hauptfigur, sie tut darin nichts anderes als durch eine Drehtür zu gehen, aber jeder, der diesen Film zu Gesicht bekommt, verfällt ihm und wird zum sabbernden, stummen Kleinkind, das nur noch einen Wunsch kennt: den Film wieder zu schauen. Der Film ist die schlimmste Droge, die bisher erfunden wurde. Joelle selbst steht auf Kokain, das sie schließlich in eine Entzugsklinik führt, wo sie den Schmerztabletten-Junkie Don Gately trifft. Es gibt in dem ganzen Buch nur wenige Menschen, die nicht süchtig sind oder süchtig waren. Einer von ihnen ist Mario Incandenza, der ein großes Schloss um den Körper tragen muss, weil er sonst umfallen würde. Ausnahmslos jede Figur in Unendlicher Spaß ist deformiert, am Körper, im Geist, für David Foster Wallace scheint das keinen elementaren Unterschied zu machen. Für ihn scheint das die unabänderliche Begleiterscheinung menschlicher Existenz zu sein. Behinderung ist menschlich. Seltsam ist dann, das fast nichts, was diese behinderten Figuren tun, auch human ist. Dieser Widerspruch ist die wichtigste Plotlinie des ganzen Buches, sie bewegt sich nicht horizontal in der Zeit fortschreitend, sondern vertikal, immer tiefer hinein: Es ist der Graben zwischen der eigenen Anfälligkeit der Menschen und ihrer Härte nach außen.

Diesen Graben könnte die Sprache überwinden, wenn die Figuren in der Lage wären, sich klar und bedeutungsvoll auszudrücken. Sie lenken sich aber lieber ab, halten die Welt und ihre Gefühle von sich, mit allerhand Substanzen und eingebildet Substanziellem, mit Kokain, Schmerzmitteln, Valium, Speed, Marihuana, Jack Daniels, dem Spiel, Erfolg, und mit Ironie, der billigsten Droge, die einen Menschen seiner Welt entfremden kann. Die Ironie ist der Blinddarm der Massenunterhaltung, die alles Bedeutende in ihren Shows, Zeitschriften, Filmen vorführt, die Menschen verführt, und jeglichen Sinn dem Lacher opfert. Wir müssen von Da-Sein der Protagonisten sprechen, da ihnen zwar ständig ungeheure Dinge zustoßen, in diesem Buch aber nichts so erzählt wird, das den Vortrieb von Wörtern wie „Schicksal“ oder „Leben“ rechtfertigen würde. Erst gegen Ende verdichten sich die Ereignisse wie in einem guten Kriminalroman und Foster Wallace führt die Fäden wieder zusammen, die er vorher in wildem Kalkül im Raum verteilt hatte.

Er hat sein Werk dabei als ein Panoptikum angelegt, keiner der einzelnen Abschnitte scheint auf den zweiten Blick noch das zu bedeuten, was er auf den ersten Blick bedeutete – das, nicht sein Umfang, nicht die Fußnoten – macht dieses Buch zu so einer immensen Herausforderung. Denn Foster Wallace zwingt den Leser hinab in sein Spiegelkabinett, dort ist es düster, das Licht grau, die Spiegel sind stumm. Er verwirrt seine Leser ohne sie mit einer geradlinigen Handlungsfolge zu beruhigen, die ihnen vorgaukeln könnte, der Geschichte noch folgen zu können – wenn sie sie eigentlich schon längst nichts mehr verstehen. Im Westen kennen wir diese Verwirrung, es ist unser zentrale Erfahrung, wenn wir offenen Herzens und mit skeptischem Verstand der Welt begegnen: Es ist viel los, und nichts macht Sinn. Alles rast, blinkt, zerbricht, liebt, hupt, grölt, flüstert, küsst, schreit, schmerzt, langweilt in dieser Welt. Wir können nicht davon sprechen, also müssen wir davor fliehen und unsere Sinne betäuben. David Foster Wallace lehnte das ab.

Sein Werk Unendlicher Spaß ist der Versuch, davon zu sprechen, es ist der Versuch, dem ganzen großen Knacks, der diese Welt ist, eine Form zu geben und uns Menschen wieder zusammenzuschließen als fühlende Wesen, die nur aufhören müssten, sich abzulenken und den Blick heben, in die Augen und tiefer hinein schauen müssten, nicht in der Politik oder der Armee oder der Wirtschaft, das sind verlorene Gebiete, nein, auf TV-Sofas, in Café-Stühlen, auf Schulbänken, an Werktischen, in Parks voller Dealer und Mütter, auf dem Acker, dort müssten die Menschen wieder mutig genug sein, zu fühlen, und ja auch sentimental zu werden, und noch mutiger werden, auch davon zu sprechen, und am mutigsten werden, und handeln wie sie fühlen, mit Pathos und ganzer Leidenschaft, für die sie in der Öffentlichkeit belächelt werden würden, und, wenn man so jemanden sieht, müsste man einmal selber mutig sein und folgenden Versuch starten: denjenigen ernst nehmen und sehen, was dann passiert; ich glaube, man würde mehr sprechen und man würde vielleicht nicht glücklicher sterben, aber alles hätte mehr Sinn gehabt, das gibt uns David Foster Wallace mit, und mehr kann man nicht von einem Buch verlangen.

Und diese großen Worte sind mein voller Ernst.  ̶N̶̶a̶̶t̶̶ü̶̶r̶̶l̶̶i̶̶c̶̶h̶̶.̶

Weiterlesen:

SW #144 – Nur ein Fakt

In journalism just one fact that is false prejudices the entire work. In contrast, in fiction one single fact that is true gives legitimacy to the entire work.

Gabriel Garcia Marquez, The Art of Fiction No. 69, Paris Review

SW #141 – There are more things

Um etwas zu sehen, muss man es verstehen. Der Sessel setzt den menschlichen Körper voraus, seine Gelenke und Gliedmaßen; die Schere die Tätigkeit des Schneidens. Was soll man von einer Lampe oder einem Wagen sagen= Der Wilde kann die Bibel eines Missionars nicht erkennen; der Passagier sieht nicht das gleiche Takelwerk wie die Matrosen. Wenn wir das Universum wirklich sähen, würden wir es vielleicht verstehen.

Jorge Luis Borges, „There are more things“ in Spiegel und Maske, Erzählungen 1970-1983

SW #138 – Am Saum des Morgens

Die Mystiker berufen sich auf eine Rose, einen Kuss, einen Vogel, der alle Vögel ist, eine Sonne, die jeglicher Stern und die Sonne ist, einen Krug Wein, einen Garten oder den Geschlechtsakt. Keine von diesen Metaphern taugt mir für jene lange Nacht des Jubels, die uns müde und glücklich am Saum des Morgens absetzte.

Jorge Luis Borges, „Der Kongress“ in Spiegel und Maske, Erzählungen 1970-1983

SW #136 – Die perfekte Metapher für die NSA

Gerade habe ich in den Harvard-Vorlesungen des argentinischen Dichters Jorge Luis Borges die passendste Metapher für die Überwacher im Internet gefunden:

But I shall not grow too old to see
Enormous night arise,
A cloud that is larger than the world
And a monster made of eyes.

G.K. Chesterton (engl. Dichter) – A Second Childhood

Bemerkenswert: Es ist kein Monster mit (tausenden) Augen, sondern ein Monster aus Augen.

porträt teju cole, autor, usa, nigeria, roman open city

Teju Cole: „Open City“ (und der Groove)

porträt teju cole, autor, usa, nigeria, roman open city
Teju Cole

Ich habe lange nicht verstanden, was es bedeuten soll, wenn ein Text „Rhythmus“ hat. Eine Sprach-Melodie ergibt sich aus Wortwahl, Tonlage, Satzlänge, klar. Aber einem ganzen Buch einen bestimmten Takt zusprechen zu wollen, hielt ich für vermessen – bis ich Teju Coles‘ „Open City“ gelesen hatte.

Denn dieses Buch groovt. Was daran liegen kann, dass darin einer durchweg läuft, durch die Straßen von New York und Brüssel, durch die Kultur Europas und die amerikanische Rassen-Gegenwart, durch Mahlers 9. Symphonie und die Trümmer des 11. September 2001. Und ein guter Groove ist genau das: beweglich, aber schwer und erhaben.

Genauer: Groove ist, wenn der Takt allein schon ein Gefühl ist; und in diesem Roman schwingt jedes Kapitel einer rein essayistischen Pointe zu und gibt so einen besonnenen Takt vor, das Klopfen der Einfälle. Der Leser fühlt sich ruhig dabei.

Das war’s auch schon

Warum Bukowski und Thompson öfter mal in Bars gepriesen werden? In ihren Arbeiten wird gesoffen, gehurt und gekokst. Das war’s auch schon.