Und das Prinzenpaar bleibt bis zum Schluss – Beim Seniorenfasching

Wenn wir 13 Jahre alt sind und es uns gelingt, uns den Weg in die Clubs zu lügen, dann schauen wir auf die Älteren, die nicht lügen mussten, um hereinzukommen und zwischen uns und ihnen liegen nur wenige Jahre und doch eine ganze Welt. Wenn wir 18 Jahre alt sind und nicht mehr lügen müssen und neuerdings in die angesagten Clubs gehen, dann sehen wir 30-Jährige und es ist etwas merkwürdig, denn zwischen uns und ihnen liegt noch eine ganze Generation. Wenn wir aber 70 Jahre alt sind, und zu einem Fasching gehen, dann treffen wir dort 87-Jährige und wir sind alle gleich, denn das Altern ist ein großer Befreier, das uns aus den Befangenheiten des Alltags löst.

So treffen sich die Herrschaften an einem Wochentag zum Seniorenfasching im Gemeinschaftshaus der Gropiusstadt zwischen grauen und nicht ganz so grauen Wohnhäusern. Sie haben sich für 15 Uhr verabredet, natürlich, denn das Altern nimmt uns auch die Pflicht immerzu strebsam und nüchtern zu sein, wenn die anderen in ihren Büros und Ämtern und Läden auch noch strebsam und nüchtern sind.

Vielleicht 100 Gäste sitzen an mehreren Tischreihen in diesem Haus, das eigentlich eine Halle ist. Um die Tische kreisen ein paar Mitglieder der Garde, die nachher mit Tamtam in den Saal einziehen werden. Sie schreiten in kleinen Grüppchen stolz auf und ab. Glöckchen an ihren Hüten bimmeln, Strass auf ihren Jacken glitzert und die Kümmerling-Flaschen klacken, wenn sie mit ihren Freunden anstoßen.

In den Winkeln und an den Wändern dieser kahlen Multifunktionshalle hängen große Papiersterne. Sie sind regenbogenfarben und gegenüber der Bühne lachen Masken. Statt Haaren kraulen sich Luftschlangen von ihrem Scheitel herab und auf der Bühne steht unter den Licht-Strahlern das Eberhard-Müller-Duo, das singen kann, aber manche Ton-Höhen nicht trifft.

Die Präsidentin der Garde, Frau Margot Hofmann, tritt an den Tisch der Ehrenamtlichen, die mittags die Sterne und die Masken aus dem Lager herangeschafft hatten. Sie bedankt sich mit einem feisten Lächeln und am Revers ihres Jacketts hat sie neun Anstecker von anderen Vereinen der Stadt hängen, neun allein aus diesem Jahr. Frau Hofmann warnt schon einmal, dass das Programm bis zur ersten Tanzpause noch etwas langweilig werde, weil es ja so schwer sei alle Leute zu kriegen, die seien ja alle berufstätig. Aber das Prinzenpaar, sagt Frau Hofmann, das bleibe wohl bis zum Schluss.

Die Herrschaften in der Halle finden es dabei nicht so schlimm, dass es Donnerstag ist und dass es etwas langweilig werden könnte und dass die Musiker nicht alle Töne treffen, sie streichen ihre Blusen glatt und straffen ihre Hemden. Sie fassen ihre Lieben an der Hand und schlängeln sich zwischen den Stühlen hindurch zur Tanzfläche, keiner beäugt sie dabei und dann tanzen sie, rot, rot, rot sind die Rosen, ganz langsam drehen sie sich umeinander und es werden immer mehr Paare. Alle kreisen um einen Mittelpunkt, den nur sie kennen und draußen zwischen den grauen Wohnhäusern kommen die Leute von der Arbeit heim und das Prinzenpaar, das bleibt bis zum Schluss.

Dieser Text erschien in Zitty, Ausgabe 25, in der Reihe: „Wir sind viele“, leicht verändert.

SW #39

Alle Straßen verliefen schnurgerade, und am Ende jeder Straße lag der Horizont. Fahrräder, Fuhrwerke, Autos kreuzten das Blickfeld, tauchten auf, verschwanden, langsame, bewegliche Figuren auf einem großen Panorama. Ich sah mich selbst mit meinem Koffer gehen, das Blickfeld eines anderen kreuzend, eines Mannes, einer Frau, eines Kindes, die unter der an die Stirn gelegten Hand Ausschau hielten, werweißwonach, die gingen, fuhren, standen, verharrten, die sich anschickten fortzugehen oder einen Heimkehrer erwarteten. Hier, wo alle Straßen in die Ferne führten, schien das Gehen, Sehen, Kreuzen des Blicks eine unaufhörliche große Bewegung, ein Schaukasten des leisen Welttheaters, ein Aufziehspiel, das nie zu Ende ging.

Esther Kinsky, “Banatsko”