SW #141 – There are more things

Um etwas zu sehen, muss man es verstehen. Der Sessel setzt den menschlichen Körper voraus, seine Gelenke und Gliedmaßen; die Schere die Tätigkeit des Schneidens. Was soll man von einer Lampe oder einem Wagen sagen= Der Wilde kann die Bibel eines Missionars nicht erkennen; der Passagier sieht nicht das gleiche Takelwerk wie die Matrosen. Wenn wir das Universum wirklich sähen, würden wir es vielleicht verstehen.

Jorge Luis Borges, „There are more things“ in Spiegel und Maske, Erzählungen 1970-1983

SW #140 – Wer zuerst macht

Dem abgeklärten Buddha erscheint das Getriebene der Welt lächerlich, weil er selbst gar nichts mehr damit zu tun hat. Dem Zyniker erscheinen die Gefühle der Mitmenschen lächerlich, weil er selbst keine Gefühle mehr hat. Dem Nichtfußballer erscheint es lächerlich, stundenlang hinter einem kleinen Lederball hinterherzulaufen. […] Man könnte behaupten, dass das Lebende immer lächerlich ist, denn nur das Tote ist ganz und gar nicht lächerlich.

Fritz Zorn, via

Dilemma des 21. Jahrhundert

Das Dilemma des 21. Jahrhundert lässt sich in einfachen Worten beschreiben: überall Aktien- und Filter-, aber ganz generell zu wenig Seifenblasen.

porträt teju cole, autor, usa, nigeria, roman open city

Teju Cole: „Open City“ (und der Groove)

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Teju Cole

Ich habe lange nicht verstanden, was es bedeuten soll, wenn ein Text „Rhythmus“ hat. Eine Sprach-Melodie ergibt sich aus Wortwahl, Tonlage, Satzlänge, klar. Aber einem ganzen Buch einen bestimmten Takt zusprechen zu wollen, hielt ich für vermessen – bis ich Teju Coles‘ „Open City“ gelesen hatte.

Denn dieses Buch groovt. Was daran liegen kann, dass darin einer durchweg läuft, durch die Straßen von New York und Brüssel, durch die Kultur Europas und die amerikanische Rassen-Gegenwart, durch Mahlers 9. Symphonie und die Trümmer des 11. September 2001. Und ein guter Groove ist genau das: beweglich, aber schwer und erhaben.

Genauer: Groove ist, wenn der Takt allein schon ein Gefühl ist; und in diesem Roman schwingt jedes Kapitel einer rein essayistischen Pointe zu und gibt so einen besonnenen Takt vor, das Klopfen der Einfälle. Der Leser fühlt sich ruhig dabei.

SW #117

Hier lebt ein freier Mensch. Niemand schuldet ihm etwas.

Albert Camus & René Char, “La Postérité du soleil”, 1986

SW #115 – Tschick

Es riecht nach Blut und Kaffee.

Wolfgang Herrndorf, “Tschick”

SW #107

Kurz vor seiner Abreise lernte er den berühmten Georg Forster kennen, einen dünnen, hustenden Mann mit ungesunder Gesichtsfarbe. Er hatte mit Cook die Welt umrundet und mehr gesehen, als irgendein anderer Mensch aus Deutschland, jetzt war er eine Legende, sein Buch war weltbekannt, und er arbeitete als Bibliothekar in Mainz. Er erzählte von Drachen und lebenden Toten, von überaus höflichen Kannibalen und Tagen, an denen das Meer so klar war, das man meinte, über einen Abgrund zu schweben, von Stürmen, so heftig, dass man nicht zu beten wagte. Melancholie umgab ihn wie ein feiner Nebel. Er habe zu viel gesehen, sagte er. Eben davon handle das Gleichnis von Odysseus und den Sirenen. Es helfe nichts, sich an den Mast zu binden, auch als Davongekommener erhole man sich nicht von der Nähe des Fremden. Er finde kaum Schlaf mehr, die Erinnerungen seinen zu stark. Vor Kurzem habe er Nachricht bekommen, dass sein Kapitän, der große und dunkle Cook auf Hawaii gekocht und gegessen worden sei. Er rieb sich die Stirn und betrachtete die Schnallen seiner Schule. Gekocht und gegessen, wiederholte er.

Er wolle auch reisen, sagte Humboldt.

Foster nickte. Mancher wolle das. Und jeder bereue es später.

Warum?

Weil man nie zurückkommen könne.

Daniel Kehlmann, “Die Vermessung der Welt”

SW #99

Wenn ich den Verstand verloren habe, soll’s mir auch recht sein, dachte Moses Herzog.

Saul Bellow, “Herzog”, erster Satz

SW #91

Wenn Sie ein Gedicht suchen, werden Sie scheitern. Ein Gedicht muss zu Ihnen kommen.

Mein alter Deutschlehrer

SW #76

I have never kept diaries. I just remember a lot and am more self-centered than most people.

Alice Munro. Writer. Canadian. Badass.  (via thessaly)

SW #71

Denn wir hatten mal einen, der nicht Schluss machen wollte mit sich, und schwor, lieber werde er uns alle mitnehmen, und schlug die Tür mit einem Donnerschlag hinter sich zu, da wackelte das Haus in allen Fugen. Das haben wir als Sorte gerade noch mal so überlebt. Wenn auch nur aus einem einzigen Grund: Er hatte die richtige Technik noch nicht

Werner Bräunig, “Rummelplatz”, S.89

SW #61

Jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben lässt, sieht sich zuerst nach allen Seiten um.

Franz Kafka

SW #56

Von Perioden, die das Nebeneinander wie das Hintereinander rasch zusammenzufassen erlauben, ist umfänglicher Gebrauch zu machen. Rapide Abläufe, Durcheinander in bloßen Stichworten; wie überhaupt an allen Stellen die höchste Exaktheit im suggestiven Wendungen zu erreichen gesucht werden muss. Das Ganze darf nicht wie gesprochen erscheinen, sondern wie vorhanden.

Alfred Döblin, Berliner Programm

SW #43

Es vergeht kein einziger Tag, an dem ich nicht…”, sagt der pensionierte Vertreter für Nachschlagewerke P.Craig Lunt im Büro des Spielsshow-Moguls, der ein Geduldsspiel zwischen den Fingern hält und sich darauf konzentriert, eine Liebesperle in den Mund eines Clowns zu lenken.

David Foster Wallace in “Tiere sehen dich an”

SW #39

Alle Straßen verliefen schnurgerade, und am Ende jeder Straße lag der Horizont. Fahrräder, Fuhrwerke, Autos kreuzten das Blickfeld, tauchten auf, verschwanden, langsame, bewegliche Figuren auf einem großen Panorama. Ich sah mich selbst mit meinem Koffer gehen, das Blickfeld eines anderen kreuzend, eines Mannes, einer Frau, eines Kindes, die unter der an die Stirn gelegten Hand Ausschau hielten, werweißwonach, die gingen, fuhren, standen, verharrten, die sich anschickten fortzugehen oder einen Heimkehrer erwarteten. Hier, wo alle Straßen in die Ferne führten, schien das Gehen, Sehen, Kreuzen des Blicks eine unaufhörliche große Bewegung, ein Schaukasten des leisen Welttheaters, ein Aufziehspiel, das nie zu Ende ging.

Esther Kinsky, “Banatsko”

SW #37

Eine Zeit, in der es sozial bedeutsamer ist, einen IMAP-Client konfigurieren zu können, als ein Gedicht zu rezitieren. Eine Scheißzeit.

@Einstückkäse