Vom Ideenministerium zur Verfassungsversammlung – Island reformiert sich im Internet

Die Isländer machen es jetzt anders. Mit offenen Strukturen und neuen Mitmach-Methoden wollen sie das Land reformieren und die Demokratie ins 21. Jahrhundert führen.

Wahlen und Meinungsumfragen, Untersuchungsaussüsse und öffentliche Kontrolle des Staates hatten nicht verhindert, dass das Land in die tiefste Krise seit seiner Gründung abgerutscht ist. Die rigorose Liberalisierung der Regierung haben eine massive Finanz-Blase entstehen lassen. Die Folge: Verstaatlichte Banken, explodierende Schulden, Verlust des Vertrauens in die Eliten.

Der IT-Unternehmer Guðjón Már Guðjónsson  und der Unternehmensberater Bjarni S. Jonsson sind die Väter einer neuen Demokratie-Bewegung.  Sie haben Prinzipen aus der Computer-Welt in die Politik eingebracht: Offene Ideenfindung, volle Transparenz und die Möglichkeit für jeden, mitzuarbeiten und den „Quellcode“ zu verändern.

Keine herkömmliche Organisation, sondern ein Ideenministerium

Anstatt eine herkömmliche gemeinnützige Organisation zu gründen und darauf zu hoffen, dass aus ihr neue Ideen für die Reform des Landes erwachsen, hat Guðjónsson das so genannte Ideenministerium etabliert – zunächst nur online auf englisch und isländisch (Seiten inzwischen offline). Dort konnten Vorschläge gesammelt, ausgetauscht und bewertet werden.  Ganz so, wie es zur Zeit mit dem „18. Sachverständigen“ begleitend zur Internet-Enquete in Deutschland geschieht. Der Unterschied: Die Isländer haben ein ganzes Land zu reformieren.  Auf der Homepage wurde als Ziel für das Ideenministerium formuliert:

Solving the current challenges by adding new policies to an already fractured framework, as well as injecting economic stimulants, should merely be a short-term fix, to keep the wheels turning while getting to the root of the problem. We now know that long-term problems are not solved with short-term solutions. The very foundations of liberty and democracy must be revisited.

Die FTD berichtet, dass bald nach seiner Einrichtung  immer mehr Vorschläge beim Ideenministerium eingereicht wurden, und die Bürger in so großer Zahl daran teilnahmen, dass auch eine echte, reale Versammlung zu Stande kam. Zur Vollversammlung des Ideenministeriums wurden 1200 Menschen eingeladen, alle von ihnen zufällig  aus dem Melderegister ausgewählt. Heraus kam ein recht gutes Abbild der isländischen Gesellschaft.

Es entsteht eine Paulskirche 2.0

Die zufällig ausgewählten Delegierten wurden von 300 Mitarbeitern von gemeinnützigen Organisationen, Parteimitgliedern, Verwaltungsleuten und Abgeordneten unterstüzt. In Neunergruppen setzten sie sich zusammen und diskutierten die Ideen. Die Ergebnisse dieser Gesprächsrunden katalogisierte und ordnete ein Computer, um daraus eine Ideenwolke zu entwickeln. Der Clou dabei: Alle Ideen standen online, waren einsehbar und änderbar für jeden. Die Vorschläge zur Reform des Landes durchliefen so einen viel stärkeren und vor allem transparenteren Filterprozess als es die gängige Verwaltungs- und Demokratiepraxis vorsieht. Letztlich konnten nicht nur die 1500 Menschen auf der Konferenz an der Zukunft des Landes basteln, sondern jeder, der einen Internet-Anschluss hat – eine Paulskirche 2.0 quasi.

Und die Initiative hat Wirkung gezeigt. Denn die Isländer haben eine neue Verfassungsversammlung gebildet, die nicht nur den etablierten Repräsentanten offen stand, sondern auch den Bürgern; einzige Bedingung: Sie mussten gewählt werden. Das war ein Novum in der Geschichte des Landes. Der isländische Premierminister machte 2009 klar, warum er den Prozess so offen gestaltet hat:

In a statement accompanying the bill the reasons why ideas about a Constitutional Assembly had been revivified were said to be mainly due to the extensive social discourse [Hervorhebung d. Autors] about the need to review the basis of the Icelandic administration following the collapse of the banks and the economic meltdown of the Icelandic economy.

Der Sprung aus der virtuellen in die reale Welt ist geglückt

Die virtuelle Bewegung hatte sich also nicht in Slacktivismus, dem anstrengungslosen Untertstützen von Online-Aktionen, erschöpft. Der Sprung von der virtuellen Welt in die reale ist den Isländern gelungen. Zur Zeit feilen gewählte Arbeitsgruppen der Verfassungsversammlung an Vorschlägen zur Reform. Auf der Homepage, auf Facebook und Twitter kann sich jeder Bürger beteiligen und die Fortschritte verfolgen.

Noch ist es zu früh, um diesen Verfassungsprozess Islands endgültig zu bewerten. Sicher ist aber schon jetzt: Dessen Mischung von analoger und digitaler Teilhabe kann die Legitimation moderner Demokratien vergrößern. Hätte man Stuttgart 21 zumindest auf diese Weise geplant,  hätte viel Ärger vermieden werden und Heiner Geissler im Ruhestand bleiben können. Transparente Ideenfindung heißt Einbindung heißt Schlichtung. Durch digitale Foren wie das Ideenministerium oder die Online-Strategie der Verfassungsversammlung kann der Eindruck vieler Bürger, dass „die da oben“ machen, was sie wollen, bekämpft werden.

Bildquelle: http://on.fb.me/mjbJmE

Wir sind Präsident!

In Tunesien demonstrieren die Bürger wieder. Gegen den Noch-Präsidenten Ghannouchi, aber auch gegen das präsidentielle System. Ein Beispiel, das Schule machen sollte.

Es sind nicht F15-Kampfflugzeuge und auch nicht Abrams-Panzer. Die Rangliste der gefährlichtsten Exportgüter Amerikas führt der Präsidentialismus an. Ob in Ägypten, Tunesien oder dem Jemen: Nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten folgten die meist miliärisch dominierten Eliten dieser Länder dem Vorbild der USA und wählten präsidentielle Systeme. Wohlwissend, dass die Gestaltungsräume für einen einzelne politische Kraft, einen starken Mann darin am größten bleiben würden.

Die neuen Demokratien funktionierten mehr schlecht als recht. Im Jemen wurden anfangs noch freie Wahlen abgehalten, bald aber nahm der Autoritarismus von Dauerpräsident Ali Abdullah Salih überhand. Die tunesische Regierung verbot acht Jahre nach der Staatsgründung die einzige ernst zu nehmende Oppositonspartei. In Ägypten verfolgte General Nasser unbarmherzig die oppositionelle Muslimbruderschaft und schwang sich zum uneingeschränkten Herrscher des Landes auf.

Hätte-wäre-wenn-Spiele funktionieren in der geschichtlichen Betrachtung nicht. Es bleibt unklar, was passiert wäre, wenn die jungen arabischen Republiken nicht den Präsidentialismus, sondern ein parlamentarisches System gewählt hätten. Aber nicht ohne Grund haben alle acht heutigen, osteuropäischen Mitglieder der EU ein parlamentarisches System. Und nicht ohne Grund sind mit der Ukraine und Weissrussland zwei Länder mit präsidentiellem Systemen noch immer die politischen Parias Europas.

Präsidentielle Systeme tragen den Keim zum Autoritarismus in sich. Der Fokus auf einen Mann an der Spitze, gar begleitet von einem herrischen Zentralismus oder einem starken militaristischen Ethos, wird zum Katalysator für die Diktatur. Die ersten Präsidenten der neuen arabischen Republiken konnten mit ihrer formell zwar beschränkten, aber dennoch immensenen Machtfülle die Opposition aus dem Weg räumen und so ihre Herrschaft auf Jahre hinaus sichern.

Anders in parlamentarischen Systemen, etwa in Deutschland. Dort braucht es zwingend Parteien. Das Volk muss untereinander in Dialog treten, sich sortieren und formieren und schließlich ins Parlament gewählt werden, eine große Pluralisierungsmaschine setzt sich da in gang. Schließlich werden die Parteien genauso zahlreich wie ihre inhaltlichen Unterschiede sein. Die Gefahr, dass eine einzige politische Kraft sich durchsetzt, sinkt mit der Zahl der Parteien. Jede Partei wird – schon aus purem Eigennutz – darauf achten, dass sich keine andere Partei illegal Vorteile verschafft.

Oft müssen die Parteien in parlamentarischen Systemen gar Koalitionen eingehen, um überhaupt regieren zu können. Diktatorische Alleingänge, geschweige denn autoritäre Verfassungsänderungen zugunsten der eigenen Partei werden dadurch zusätzlich erschwert.

Zudem: Die Premierminister, Kanzler und Ministerpräsidenten solcher Systeme regieren von Parlaments Gnaden. Verliert der Regierungschef das Vertrauen, kann er durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden.

Die Bürger Tunesiens tun also gut daran, ein parlamentarisches System zu fordern und dem halbgaren Präsidentialismus den Rücken zu kehren. Es bleibt die Hoffnung, dass auch die Ägypter vom politischen Pharaonentum Abschied nehmen und sich dem Parlamentarismus zuwenden.