Übrigens…

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Warum, wieso und was im Mission Statement von hive.

 

Vom Ideenministerium zur Verfassungsversammlung – Island reformiert sich im Internet

Die Isländer machen es jetzt anders. Mit offenen Strukturen und neuen Mitmach-Methoden wollen sie das Land reformieren und die Demokratie ins 21. Jahrhundert führen.

Wahlen und Meinungsumfragen, Untersuchungsaussüsse und öffentliche Kontrolle des Staates hatten nicht verhindert, dass das Land in die tiefste Krise seit seiner Gründung abgerutscht ist. Die rigorose Liberalisierung der Regierung haben eine massive Finanz-Blase entstehen lassen. Die Folge: Verstaatlichte Banken, explodierende Schulden, Verlust des Vertrauens in die Eliten.

Der IT-Unternehmer Guðjón Már Guðjónsson  und der Unternehmensberater Bjarni S. Jonsson sind die Väter einer neuen Demokratie-Bewegung.  Sie haben Prinzipen aus der Computer-Welt in die Politik eingebracht: Offene Ideenfindung, volle Transparenz und die Möglichkeit für jeden, mitzuarbeiten und den „Quellcode“ zu verändern.

Keine herkömmliche Organisation, sondern ein Ideenministerium

Anstatt eine herkömmliche gemeinnützige Organisation zu gründen und darauf zu hoffen, dass aus ihr neue Ideen für die Reform des Landes erwachsen, hat Guðjónsson das so genannte Ideenministerium etabliert – zunächst nur online auf englisch und isländisch (Seiten inzwischen offline). Dort konnten Vorschläge gesammelt, ausgetauscht und bewertet werden.  Ganz so, wie es zur Zeit mit dem „18. Sachverständigen“ begleitend zur Internet-Enquete in Deutschland geschieht. Der Unterschied: Die Isländer haben ein ganzes Land zu reformieren.  Auf der Homepage wurde als Ziel für das Ideenministerium formuliert:

Solving the current challenges by adding new policies to an already fractured framework, as well as injecting economic stimulants, should merely be a short-term fix, to keep the wheels turning while getting to the root of the problem. We now know that long-term problems are not solved with short-term solutions. The very foundations of liberty and democracy must be revisited.

Die FTD berichtet, dass bald nach seiner Einrichtung  immer mehr Vorschläge beim Ideenministerium eingereicht wurden, und die Bürger in so großer Zahl daran teilnahmen, dass auch eine echte, reale Versammlung zu Stande kam. Zur Vollversammlung des Ideenministeriums wurden 1200 Menschen eingeladen, alle von ihnen zufällig  aus dem Melderegister ausgewählt. Heraus kam ein recht gutes Abbild der isländischen Gesellschaft.

Es entsteht eine Paulskirche 2.0

Die zufällig ausgewählten Delegierten wurden von 300 Mitarbeitern von gemeinnützigen Organisationen, Parteimitgliedern, Verwaltungsleuten und Abgeordneten unterstüzt. In Neunergruppen setzten sie sich zusammen und diskutierten die Ideen. Die Ergebnisse dieser Gesprächsrunden katalogisierte und ordnete ein Computer, um daraus eine Ideenwolke zu entwickeln. Der Clou dabei: Alle Ideen standen online, waren einsehbar und änderbar für jeden. Die Vorschläge zur Reform des Landes durchliefen so einen viel stärkeren und vor allem transparenteren Filterprozess als es die gängige Verwaltungs- und Demokratiepraxis vorsieht. Letztlich konnten nicht nur die 1500 Menschen auf der Konferenz an der Zukunft des Landes basteln, sondern jeder, der einen Internet-Anschluss hat – eine Paulskirche 2.0 quasi.

Und die Initiative hat Wirkung gezeigt. Denn die Isländer haben eine neue Verfassungsversammlung gebildet, die nicht nur den etablierten Repräsentanten offen stand, sondern auch den Bürgern; einzige Bedingung: Sie mussten gewählt werden. Das war ein Novum in der Geschichte des Landes. Der isländische Premierminister machte 2009 klar, warum er den Prozess so offen gestaltet hat:

In a statement accompanying the bill the reasons why ideas about a Constitutional Assembly had been revivified were said to be mainly due to the extensive social discourse [Hervorhebung d. Autors] about the need to review the basis of the Icelandic administration following the collapse of the banks and the economic meltdown of the Icelandic economy.

Der Sprung aus der virtuellen in die reale Welt ist geglückt

Die virtuelle Bewegung hatte sich also nicht in Slacktivismus, dem anstrengungslosen Untertstützen von Online-Aktionen, erschöpft. Der Sprung von der virtuellen Welt in die reale ist den Isländern gelungen. Zur Zeit feilen gewählte Arbeitsgruppen der Verfassungsversammlung an Vorschlägen zur Reform. Auf der Homepage, auf Facebook und Twitter kann sich jeder Bürger beteiligen und die Fortschritte verfolgen.

Noch ist es zu früh, um diesen Verfassungsprozess Islands endgültig zu bewerten. Sicher ist aber schon jetzt: Dessen Mischung von analoger und digitaler Teilhabe kann die Legitimation moderner Demokratien vergrößern. Hätte man Stuttgart 21 zumindest auf diese Weise geplant,  hätte viel Ärger vermieden werden und Heiner Geissler im Ruhestand bleiben können. Transparente Ideenfindung heißt Einbindung heißt Schlichtung. Durch digitale Foren wie das Ideenministerium oder die Online-Strategie der Verfassungsversammlung kann der Eindruck vieler Bürger, dass „die da oben“ machen, was sie wollen, bekämpft werden.

Bildquelle: http://on.fb.me/mjbJmE

hive – das Magazin für die digitale Gesellschaft kommt

Bisher habe ich hier noch keine Meta-Artikel gepostet… da brauchte es schon was Besonderes: hive.

An der Deutschen Journalistenschule (DJS) müssen wir zum Ende unserer Print-Ausbildung ein Abschlussmagazin produzieren, 76 Seiten stark, erscheint im September. Das ist hive, es ist ein Magazin für die digitale Gesellschaft. Wir wollen das Ganze natürlich online begleiten, dort auch mit Formaten experimentieren. Heute haben wir deswegen den hive-Redaktionsblog aufgesetzt. Dort gibt es alle Infos und wir freuen uns über alle, die mit dabei sind, wenn hive wächst.

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Wir haben viele Ideen, eine sehr lange Themenliste – und nur sechs Wochen Zeit. Das wird viel Arbeit.

Aber sie wird sich lohnen.

De Maizière und die Bundeswehr-Reform: „Werde eckig, Kreis!“

Verteidigungsminister Thomas de Maizière spricht im Bundestag über den von AWACS-Flugzeugen der Bundeswehr in Afghanistan. (Quelle: Bundeswehr/CC BY-ND 2.0)
Verteidigungsminister Thomas de Maizière spricht im Bundestag über den Einsatz von AWACS-Flugzeugen in Afghanistan. (Quelle: Bundeswehr/CC BY-ND 2.0)

Mit der Bundeswehrreform gibt Verteidigunsminister Thomas de Maizière den unmöglichsten Befehl seiner noch kurzen Amtszeit.

Die alten Männer in der Berliner Julius-Leber–Kaserne schauen skeptisch. Ganz so, als ob ihr Oberbefehlshaber, Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU), gerade einem Kreis befehlen würde, eckig zu werden.

Aber de Maizière kündigt nur in nüchternen Worten große Veränderungen an. Veränderungen, von denen viele profitieren sollen, das Land, der Kollege Finanzminister und die Soldaten – aber nicht unbedingt sie, die Herren Generäle und Ministerialdirektoren in ihren schicken grauen Uniformen. Denn de Maizière will die Bundeswehr nicht nur in eine Freiwilligenarmee umbauen, sie besser auf Auslandseinsätze vorbereiten und dabei sparen. Er will auch streichen: 1500 Stellen im Verteidigungsministerium, 35 000 Posten in der Bundeswehr und noch einmal 21 000 Arbeitsplätze in der zivilen Armee-Verwaltung. Er will an die Pfründe der alten Männer heran; 11 000 Euro im Monat verdient etwa so ein Herr General. Und der soll das bitteschön auch noch mittragen. „Wer das nicht kann, der hat keinen Platz“ sagt der Verteidigungsminister. „Kameradschaft auch in der Neuausrichtung, das ist die Haltung, die wir brauchen.“

Selbst für einen Polit-Haudegen wie de Maizière, der schon sächsicher Finanz-, Justiz- und Innenminister war, Kanzleramt und Bundesinnenministerium leitete, ist diese Anordnung außergewöhnlich, ist die Bundeswehrreform eine Mammut-Aufgabe. Schließlich sind die grauen Männer vor ihm ein konservatives Häuflein voller Starrsinn. Als sie sich das letzte Mal bewegt hatten, regierte Adenauer und die Sowjets drohten, vom Osten her die Republik zu überfallen. Das war 1955. Da gründete man die Bundeswehr und die Generäle und Ministerialdirektoren in der neuen Armee zogen einen Kreis um sich und sagten: „Hier kommt keiner mehr rein!“ Und de Maizière will ausgerechnet diesen Kreis jetzt mal schön eckig haben. Pfff.

Die Generäle sagten: „Hier kommt keiner mehr rein!“

Aber es sind nicht nur die alten Männer, die bei der Bundeswehrreform Probleme machen werden. Sondern auch die jungen. Bei ihnen werden de Maizières Befehle und plumpe Appelle an Kameradschaftsgeist und Patriotismus nicht helfen. 5 000 bis 15 000 Freiwillige müssen sich den Plänen des Verteidigungsministers zufolge Jahr für Jahr für den Armeedienst verpflichten lassen – und das bei einem Einstiegs-Sold von gut 777 Euro im Monat. Wer im Restaurant nebenan regelmäßig kellnern geht, kommt auf einen besseren Monatslohn. Wenn der Kellnerjob überhaupt sein muss. Schließlich wird die Bundeswehr nun in der in Armeekreisen viel zitierten „freien Wirtschaft“ mit Porsche, Bosch und McKinsey um Nachwuchs werben müssen. Die Jungen haben da schon eine stattliche Auswahl. Werden sie nun, deren Zahl schon auf natürlichem Wege immer geringer wird, ihren Hintern in talibanesisches Kalaschnikow-Feuer halten, wo sie auch schnelle Autos entwickeln oder nützliche Bohrmaschinen bauen könnten?

Eine Wahl hat übrigens auch der alternde Rest des Volks – zumindest alle vier Jahre. Und diesem Rest wird vor allem eines mißfallen: Dass die Zeiten der Geldbörsen-Außenpolitik vorbei sind. Das macht de Maizière in seiner Rede unmissverständlich klar. Wo die Bundesrepublik sich früher aus der Verantwortung herauskaufen konnte, soll heute gelten: Schießen statt Zahlen, mehr Afghanistan und nicht weniger.

„Wenn Wohlstand Verantwortung erfordert, dann gilt das auch für die deutsche Sicherheitspolitik“, sagt der Verteidigungsminister. Die deutsche Bevölkerung, die Uniform und Bundes-Trikolore seit 1945 mit Inbrunst ignoriert, wird das nicht vorbehaltlos mittragen. Schon jetzt sind 60 Prozent der Deutschen gegen den Afghanistan-Einsatz. Wenn es der Bundesregierung nicht gelingt, die Bevölkerung von dieser neuen Militär-Doktrin zu überzeugen, wird es eng beim nächsten Wahlgang. Denn für den derzeitigen Darling der deutschen Wählerschaft, die friedlichen, täubischen Grünen, wären echte Debatten über Kriegsfragen Beliebtheits-Doping.

Für die Grünen wären Kriegs-Debatten Beliebtheits-Doping

Und überhaupt. Deutschland steht ja nicht allein. Das ganze Sparen, Streichen und Schmeicheln wird de Maizière unter der kritischen Beobachtung der Bündnispartner in EU und Nato erledigen müssen. Viel außenpolitischen Kredit hatte Deutschland schon mit seiner Enthaltung in der Libyen-Frage verspielt. Weitere Alleingänge wird es sich nicht leisten können, will es sich mit seinem Anspruch auf einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat nicht vollends lächerlich machen. Da hat der grüne Falke Fischer völlig recht.

Also: Alte und junge Männer, Wahlvolk, Chefin und die lieben Bündnispartner muss de Maizère zufriedenstellen. Die Formulierung, die sich dafür aufdrängt, will man ja gar nicht schreiben, der Kalauer ist zu nah, aber sie trifft es. Die Bundeswehrreform ist schon jetzt: ein Himmelfahrtskommando.

Und da hat de Maizère noch gar nicht über Geld allgemein und Rüstungsprojekte (noch mehr Geld) und Armeestandorte (das meiste Geld) gesprochen.

Bayern-Patriot Seehofer hat jedenfalls schon Witterung aufgenommen: „Soldaten, Arbeitsplätze, Standorte. Die Fragen sind ungelöst.“

Der illegale Krieg in Libyen

Schützt die Zivilisten! Das ist der Auftrag der UN-Resolution für Libyen. Um die Zivilisten geht es bei den Luft-Einsätzen aber längst nicht mehr. Deswegen muss der Krieg enden. Sofort.

Von einem Blutbad war die Rede. Falls Pro-Gaddafi-Truppen die Rebellenhochburg Benghasi einnehmen sollten. Dass diese Rebellen, die vor ein paar Tagen noch in ihrer Heimatstadt abgeschlachtet worden wären, heute Stadt nach Stadt erobern, ist da schon erstaunlich. Adschdabija, Brega, Ras Lanuf und bald auch Sirte, die Heimatstadt des Diktators. In den letzten drei Tagen rückten die Rebellen 550 Kilometer vor. Das gelang ihnen nur, weil Ägypten Waffen liefert und die Flugzeuge der internationale Militärallianz den Weg frei bomben. Es wird immer deutlicher: Die Allierten wollen Gaddafi stürzen. Der Einsatz der langsamen, flakanfälligen Kampfflugzeuge AC-130 ist ein Beleg dafür. Für die Kontrolle einer Flugverbotszone bräuchte man diese Flugzeuge nicht. So ist der Schutz von Zivilisten nur noch Mittel zum Zweck. Bewusst verstoßen die alliierten Truppen gegen die UN-Resolution.

Oder würden französische und britische Jagdbomber auch Rebellen angreifen, wenn diese Zivilisten bedrohen? Laut LA Times sollen Rebellen gezielt dunkelhäutige Menschen hingerichtet haben. Ihnen wurde vorgeworfen, Söldner von Gaddafi zu sein. Diese Berichte ertranken allerdings in den reißerischen Vergleichen der Kriegs-Befürworter.

Mahnend wurde Libyen mit Srebrenica und Ruanda verglichend. Das war unpassend. Denn die Serben begingen in Srebrenica systematische Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Hutu in Ruanda Völkermord. Im internationalen Recht können nur diese beiden Taten eine Intervention legitimieren. Beweise, dass Vergleichbares in Libyen geschehen ist, gibt es nicht. Es gab nur Gerüchte und Befürchtungen. Es gab Militärs, die desertierten und Häuserkämpfe. Es gab einen Bürgerkrieg. Und der allein ist kein Grund, das Völkerrecht zu brechen. Die „humanitäre Intervention“ von der Obama gesprochen hat, ist eigentlich Parteinahme in einem Bürgerkrieg – und damit illegal.

Lesetipps:

Eine exzellente völkerrechtlich-normative Bewertung des Libyen-Einsatzes hat der Jurist Reinhard Merkel vorgenommen. Zeit-Korrespondent Ulrich Ladurner arbeitet die geopolitischen Implikationen des Einsatzes auf und warnt vor einer „Afghanisierung“ des Einsatzes. Auch interessant: Der Völkerrechtsexperte Fred Abrahams hält den Libyen-Einsatz für begrüßenswert, da er einen internationalen Präzedenzfall schaffe.

Wer weitere gute Links zum Thema kennt, bitte in der Kommentarspalte posten. Danke

Die letzte Fahrt der Piraten

Die Piratenpartei muss das Superwahljahr 2011 nutzen, um in einen Landtag einzuziehen. Sonst wird sie endgültig von der Bildfläche verschwinden. Sie braucht jetzt Köpfe, Fokus – und etwas Glück.

Vor zwei Jahren haben viele die Piraten noch mit den Grünen verglichen, heute redet keiner mehr über sie. Umso erstaunlicher ist, dass die Partei bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg noch 2,1 Prozent aller Stimmen erreichen konnte, im Vergleich zur Bundestagswahl 2009 waren das allerdings 0,5 Prozent weniger. Daraus einen Trend ablesen zu wollen, ist verfrüht. Die Zeichen stehen für die Partei dennoch auf Sturm.

Denn fehlende Medienaufmerksamkeit und sinkende Wahlergebnisse sind Symptome für ein tieferliegendes, strukturelles Problem der Piratenpartei: Sie hat die Deutungshoheit über das Thema Datenschutz verloren und es nie geschafft, sie bei anderen Themen zu erringen.

Über Ilse Aigner und ihre naiven Tiraden gegen Facebook können sich die Piraten noch so sehr lustig machen. Es ändert nichts am Ergebnis. Aigner hat das Thema besetzt – jedenfalls in der Wahrnehmung derjenigen Bürger, die nicht auf Twitter sind oder sich in der netzpolitischen Gemeinschaft engagieren. Dort wo Aigner nicht aktiv wird, füllt FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Lücken, etwa bei der Vorratsdatenspeicherung oder dem SWIFT-Abkommen zwischen EU und USA über den Austausch von Bankdaten.

Auch bei anderen Themen konnte die Piratenpartei kaum punkten. Sie konnte sich gar nie einigen, ob sie da überhaupt punkten wollte. Nach der Bundestagswahl begannen die Piraten darüber zu streiten. Fast wie bei den Grünen war das, Realos gegen Fundis. Nur, dass das bei den Piraten Kernis gegen Vollis hieß. Die Kernis wollten sich auf die Grundthemen der Partei beschränken, die Vollis ein Vollprogramm entwickeln. So verbrachten die Piratenpartei das vergangene Jahr mit Debatten über die inhaltliche Ausrichtung. Erst auf dem Bundesparteitag im November konnten sich die Vollis durchsetzen. Das war allerdings für die Piraten zu spät, um sich auf das vorbereiten zu können, was in diesem Jahr kommen wird: noch fünf Landtagswahlen.

Zudem kommen Personalprobleme. Markus Beckedahl hat das im Interview mit DLF-Reporter Philip Banse gut analysiert: „Die Piraten diskutieren nur über Strukturen und Köpfe und dabei fehlen ihnen auch noch charismatische Köpfe, die ihre Themen eloquent nach außen vertreten können.“ Als wäre das nicht genug, scheint einer der wenigen bekannten Köpfe der Partei, Bundesvorsitzender Jens Seipenbusch, derzeit nicht auf Anfragen zu reagieren. Stattdessen muss der politische Geschäftsführer Christopher Lauer Rede und Antwort stehen. Vertrauen schafft die Partei so nicht.

Für die Piratenpartei geht es in diesem Jahr um alles. Zieht sie in einen der der fünf Landtage ein, hat sie wieder die Aufmerksamkeit, die sie braucht. Aber da beißt sich die Katze in den Schwanz. Denn ohne Aufmerksamkeit wird es keine Wahlerfolge geben.

Aber es gibt Auswege: Köpfe, Fokus, Glück.

Erstens, die Partei muss sich schleunigst einen profilierten, charismatischen Sprecher zulegen, einen, der die Piratenpartei und ihre Themen nach außen präsentiert. Eine Wahl allein über die Themen zu gewinnen, ist nur unter optimalen Bedingungen möglich – und diese sind angesichts der Konkurrenz um das Thema Datenschutz nicht gegeben.

Zweitens, die Piraten dürfen sich nicht verzetteln. Sie müssen ihre wenigen Ressourcen dort einsetzen, wo sie am ehesten in den Landtag einziehen können. Und das ist in Berlin, in der Metropole. Nur dort ist die Zahl der netzaffingen Jungen, der Stammwähler der Piraten groß genug. Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg sind zu ländlich geprägt. In Bremem holten die Piraten bei der Bundestagswahl 1 Prozent weniger als in Berlin.

Drittens, der Faktor, den die Piraten nicht beeinflussen können: die Konkurrenz. Falls der neue CSU-Innenminister die Abteilung Attacke auch auf dem Gebiet der Netzpolitik eröffnet, wäre das Pech für das Land, aber ein Glücksfall für die Piratenpartei, da die Bürger in diesen Fragen eher nicht mehr den Regierungsparteien CSU und FDP, sondern der Opposition vertrauen würden.

Auf ihr Glück allein können sich die Piraten aber nicht verlassen. Die Piraten müssen daher einen charismatischen Kopfe am richtigen Ort in den Wahlkampf schicken. Dann haben sie eine Chance.

Tun die Piraten das nicht, sind sie in diesem Jahr zu ihrer vorerst letzten Fahrt aufgebrochen.

Korrigiert: Der politische Geschäftsführer der Piratenpartei heißt Christopher Lauer, nicht Christoph Hauer. Dank an Philip Banse für den Hinweis.


Warum ein Guttenberg zurückkehren muss

Nicht jetzt. Und nicht er. Aber Einer mit dem Talent von Guttenberg muss wieder kommen. Die Demokratie braucht Politikverkäufer. Denn sie sind auch Politiklehrer.

Er ist weg, die Diskussion bleibt. Wissenschaflter unterschreiben weiter den Offenen Brief an die Kanzlerin, die Facebook-Gruppe „Wir wollen Guttenberg zurück“ wächst minütlich. Es geht jetzt ums Prinzip. Die einen verteidigen die Würde der Wissenschaft, die anderen die Würde der Person Guttenberg. Beide machen öffentlich, was sie stört und durchbrechen so die Routine aus Resignation und Rückzug ins Private. Dass sich hier zwei Gruppen gegenüberstehen, ist gut. Öffentlicher Streit ist der Motor einer Demokratie.

Guttenberg hat viel Porzellan zerschlagen. Aber auch Menschen wieder politisiert, die den Glauben an die in Berlin schon verloren hatten. „Guttenberg war seit langem der erste Politiker, der es über die Wahrnehmungsschwelle dieser Bevölkerungsgruppe geschafft hat, alle übrigen verschwimmen in ihren Augen in derselben grauen Masse“, heißt es in einem klugen Kommentar auf Netzpolitik.

Wenn Kommentatoren oder Mitstreiter Guttenbergs „politisches Talent“ lobten, dann meinten sie diese Fähigkeit: Menschen erreichen und bewegen. Und die ist  kostbar, weil selten geworden unter den Technokraten und Verwaltungsfachangestellten in den Berliner Politikschmieden.

Dabei braucht die Demokratie solche Talente heute dringender denn je. Denn diese Politiker, die Hunderttausende für ihre Person mobilisieren können, könnten auch Hunderttausenden Politik in ihrer ganzen Komplexität vermitteln. Sie könnten ihre persönliche Glaubwürdigkeit wie einen Mantel um Sachtthemen legen: „Schaut her, dieses Thema ist wichtig, darüber müssen wir reden.“ Solche Politiker sind Demokratielehrer. Sie braucht es, um die Verdrossenen und Resignierten wieder ins Boot zu holen.

Bildquelle: Wikipedia

Wir sind Präsident!

In Tunesien demonstrieren die Bürger wieder. Gegen den Noch-Präsidenten Ghannouchi, aber auch gegen das präsidentielle System. Ein Beispiel, das Schule machen sollte.

Es sind nicht F15-Kampfflugzeuge und auch nicht Abrams-Panzer. Die Rangliste der gefährlichtsten Exportgüter Amerikas führt der Präsidentialismus an. Ob in Ägypten, Tunesien oder dem Jemen: Nach der Unabhängigkeit von den Kolonialmächten folgten die meist miliärisch dominierten Eliten dieser Länder dem Vorbild der USA und wählten präsidentielle Systeme. Wohlwissend, dass die Gestaltungsräume für einen einzelne politische Kraft, einen starken Mann darin am größten bleiben würden.

Die neuen Demokratien funktionierten mehr schlecht als recht. Im Jemen wurden anfangs noch freie Wahlen abgehalten, bald aber nahm der Autoritarismus von Dauerpräsident Ali Abdullah Salih überhand. Die tunesische Regierung verbot acht Jahre nach der Staatsgründung die einzige ernst zu nehmende Oppositonspartei. In Ägypten verfolgte General Nasser unbarmherzig die oppositionelle Muslimbruderschaft und schwang sich zum uneingeschränkten Herrscher des Landes auf.

Hätte-wäre-wenn-Spiele funktionieren in der geschichtlichen Betrachtung nicht. Es bleibt unklar, was passiert wäre, wenn die jungen arabischen Republiken nicht den Präsidentialismus, sondern ein parlamentarisches System gewählt hätten. Aber nicht ohne Grund haben alle acht heutigen, osteuropäischen Mitglieder der EU ein parlamentarisches System. Und nicht ohne Grund sind mit der Ukraine und Weissrussland zwei Länder mit präsidentiellem Systemen noch immer die politischen Parias Europas.

Präsidentielle Systeme tragen den Keim zum Autoritarismus in sich. Der Fokus auf einen Mann an der Spitze, gar begleitet von einem herrischen Zentralismus oder einem starken militaristischen Ethos, wird zum Katalysator für die Diktatur. Die ersten Präsidenten der neuen arabischen Republiken konnten mit ihrer formell zwar beschränkten, aber dennoch immensenen Machtfülle die Opposition aus dem Weg räumen und so ihre Herrschaft auf Jahre hinaus sichern.

Anders in parlamentarischen Systemen, etwa in Deutschland. Dort braucht es zwingend Parteien. Das Volk muss untereinander in Dialog treten, sich sortieren und formieren und schließlich ins Parlament gewählt werden, eine große Pluralisierungsmaschine setzt sich da in gang. Schließlich werden die Parteien genauso zahlreich wie ihre inhaltlichen Unterschiede sein. Die Gefahr, dass eine einzige politische Kraft sich durchsetzt, sinkt mit der Zahl der Parteien. Jede Partei wird – schon aus purem Eigennutz – darauf achten, dass sich keine andere Partei illegal Vorteile verschafft.

Oft müssen die Parteien in parlamentarischen Systemen gar Koalitionen eingehen, um überhaupt regieren zu können. Diktatorische Alleingänge, geschweige denn autoritäre Verfassungsänderungen zugunsten der eigenen Partei werden dadurch zusätzlich erschwert.

Zudem: Die Premierminister, Kanzler und Ministerpräsidenten solcher Systeme regieren von Parlaments Gnaden. Verliert der Regierungschef das Vertrauen, kann er durch ein Misstrauensvotum abgewählt werden.

Die Bürger Tunesiens tun also gut daran, ein parlamentarisches System zu fordern und dem halbgaren Präsidentialismus den Rücken zu kehren. Es bleibt die Hoffnung, dass auch die Ägypter vom politischen Pharaonentum Abschied nehmen und sich dem Parlamentarismus zuwenden.

Guttenberg, Öffentlichkeit und unsere Demokratie – Links zum Wochenende

Die Lüge ist ministrabel geworden (SpOn)

Die ganze Diskussion um Guttenberg drehte sich um ihn als Person, sein Amt, die Rolle der BILD-Zeitung und die Glaubwürdigkeit der Universität Bayreuth. Allerdings geht die Sache noch viel tiefer, an die Wurzeln unseres demokratischen Selbstverständnisses. Denn da hat nicht nur ein Doktorand abgeschrieben, sondern ein Minister, auf dessen Homepage  „Politik braucht klare Werte“ steht, das Volk belogen. Dass Guttenberg dafür nicht zurücktreten muss, sei eine Zäsur in der politischen Kultur der Bundesrepublik, schreibt Stefan Kuzmany auf SpOn. „Wenn ein Politiker von Werten redet und von Verantwortung, dann handelt es sich dabei nur um eine Simulation. Begriffe wie Anstand und Ehrgefühl werden nur bemüht, weil sie das Publikum gerne hören will. Doch sie bedeuten nichts. Das ist nicht gut für die Demokratie.“

Zivil-militärischer Medienkrieg (GFP)

„Die Presse ist kein Hindernis, sondern Teil des Schlachtfeldes. Sie müssen sie benutzen, von innen heraus. Wie Sonne, Nebel oder Schnee sind auch die Medien eine Rahmenbedingung der Schlacht.“ Nein, das hat kein zentralasiatischer Despot gesagt, sondern der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, Wesley Clark, anlässlich des Kosovo-Krieges. Das Zitat steht in der Einleitung zu einem neuen Reader Sicherheitspolitik der Bundeswehr. Formuliertes Ziel: „Der mediale Krieg sollte eine theoretische Unterfütterung erhalten.“ Wie die aussehen soll, wird auf den nächsten Seiten klar. Da schreibt etwa Niklas Schörning, Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung: „[Es ist] für die Regierung wichtig, eine Absicherungs- oder Hedging- Strategie gegen potenzielle eigene Opfer zu finden, da sich nur so die Opfersensibilitätsfalle umgehen lässt.“ ‚Opfersensibilitätsfalle‘ – lieber Leser, lass dir dieses Wort auf der Zunge zergehen. Was für ein Zynismus gegenüber den toten Soldaten und gegenüber dem Willen des Volks.

Retten die Blogger die Demokratie? (Nachdenkseiten)

Jens Berger von spiegelfechter.com, einer der führenden deutschen Politikblogs, bilanziert die politische Blogosphäre und kommt zu einem verhalten optimistischen Schluss. Die Polit-Blogger hierzulande sind Korrektiv zur Gatekeeper-Funktion der klassischen Medien“, sie können Protestbewegungen begleiten und bestenfalls verstärken. Um selbst Themen zu setzen, fehle es den deutschen Blogs aber an Reichweite und Professionalität.

18.Sachverständiger

Es ist ein Novum der deutschen Politik: Erstmals haben die Bürger die Möglichkeit sich direkt in den politischen Prozess des Bundestages einzubringen – ohne zuvor tausende Unterschriften für eine Petition zu sammeln. Auf enquetebeteiligung.de kann jeder mitreden und abstimmen. Noch geht es nur um Stellungnahmen zu den Arbeitsgruppen der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, noch sind die Parlamentarier und Sachverständigen der Kommission zu nichts verpflichtet. Sie können diese Stellungnahmen in ihre Arbeit einfliessen lassen, müssen es aber nicht. Beteiligen sich jedoch genügend Bürger an der Erarbeitung der Stellungnahmen und haben diese inhaltliche Substanz, steigt der Druck auf die politischen Organe, solche Formen der Partizipation öfter einzusetzen. Für unsere Demokratie wäre das ein Glücksfall.

Schönes Wochenende!

Ägypten: Was nun? – Sieben Links fürs Wochenende

Das ägyptische Volk hat Hosni Mubarak vertrieben, der Militärrat hat die Macht übernommen. Sieben Texte, die verstehen helfen, was in den nächsten Wochen passiert.

General Hussein Tantawi: Der Mächtige (FAZ)

Hosni Mubarak hat die Staatsgeschäfte dem Militärrat übergeben, der von General Hussein Tantawi, Verteidigunsminister und Kriegsvetereran, geleitet wird. Die FAZ meint: „Gegen Tantawi, der auch schon 75 ist, läuft nichts in Ägypten.“

Warum Mubarak am Ende ist (FAZ)

Auch wenn es der Titel anders suggeriert, dieser Aufsatz des amerikanischen Politik-Professors Paul Amar ist noch immer hochaktuell. Er beschreibt und analysiert kenntnisreich die einflussreichsten Gruppen in Ägypten,  fordert einen Abschied von einfachen Erklärungsansätzen à la „Volk gegen Diktatur“, „Laizisten gegen Islamisten“ sowie „Alte Garde gegen frustierte Jugend“ und unterstreicht die lange Tradtition Ägyptens in Internationalen Organisationen. Wenn Sie nur Zeit für einen Text haben, dann sollte es dieser sein. Das englische Original findet sich auf www.jadaliyya.com.

Avoiding a new pharaoh (NYT)

Der zweifache Pulitzerpreisträger Nick Kristof war einer der Ersten nach der Resignation Mubaraks, der eine Analyse (direkt aus Kairo) veröffentlichte. In seinem, angesichts der Umstände, erstaunlich nachdenklichen Text warnt er vor dem ägyptischen Militär: „I worry that senior generals may want to keep (with some changes) a Mubarak-style government without Mubarak.“

Mubarakism without Mubarak (FA)

Kristofs Sorge wird geteilt. Für die Online-Ausgabe von Foreign Affairs beschäftigt sich Politikprofessor Ellis Goldberg mit der Geschichte der ägyptischen Armee und kommt zu dem Schluss, dass diese nicht die Demokratie unterstützen werden. Schließlich hat sie sich in den letzten Jahrzehnten ein dichtes Netz aus Privilegien, Firmen und Patronage-Systemen aufgebaut, das beim Aufbau einer Demokratie verschwinden würde.

The Secret Rally That Sparked an Uprising (WSJ)

Das Wall Street Journal beschreibt, wie eine kleine Gruppe von Aktivisten, darunter Wael Ghonim, der zwischenzeitlich inhaftierte Google-Mitarbeiter, die Anfänge der Proteste organisierten, immer mit dem Ziel, auch die Menschen zu erreichen, die nicht auf Facebook sind. „The plotters say they knew that the demonstrations‘ success would depend on the participation of ordinary Egyptians in working-class districts like this one, where the Internet and Facebook aren’t as widely used.“ 20 Demonstrationsorte machten sie bekannt. Die ägyptische Polizei wartete schon. Am 21., einem geheimen, zuvor verabredeten Ort, gelang den Aktivisten schließlich der Durchbruch. Die Zukunft Ägyptens wird nicht ohne sie gestaltet werden.

The Muslim Brotherhood’s Strategy in Egypt (The Atlantic)

Die vom Westen gefürchtete Muslimbruderschaft hatte sich in den vergangenen 18 Tagen von Demonstration und Revolte zurückgehalten. Dahinter steckt sowohl eine Überzeugung: „This is a revolution for all Egyptians–it’s not ours“. Als auch eine Strategie: „It knows that it can win in the long run, if it can emerge relatively unscathed over the short run“, schreibt The Atlantic.

The Revolution Betrayed (ProSyn)

In einem erfahrungsgesättigten Text für Project Syndicate warnt die ukrainische Oppositionsführerin Julia Timoschenko vor der „Revolution, die ihre Kinder frisst“. Wahlen allein seien kein Garant für Demokratie, nur eine echte Zivilgesellschaft könne die Demokratie beschützen. Bis sie entsteht, brauche es allerdings Jahre.

Trivia

Am 11. Februar 1979 war die bisherige Ordnung völlig zusammengebrochen. #iran
Nelson Mandela wurde am 11. Februar 1990 aus dem Gefängnis entlassen. #südafrika
Hosni Mubarak trat am 11. Februar 2011 als Präsident Ägyptens zurück. #egypt

 

Bildquelle: Flickr

Westerwelle und der Bumerang

Viel Kritik musste Außenminister Guido Westerwelle in den letzten Tagen für seine zurückhaltenden Ägypten-Äußerungen einstecken. Aber er hat Recht. Ein Kommentar.

Bei Guido Westerwelle ist es wie bei einem Bumerang. Er sagt etwas, und diese Worte fliegen stets in hohem Bogen zu ihm zurück. Die Opposition kritisiert ihn oft. Entweder seien seine Worte zu stark, man denke nur an seine Aussagen zu Hartz-IV, oder sie seien zu schwach, wie im Fall seiner Äußerungen zu den Protesten in Ägypten.

Die Situation dort ist nach der Videoansprache Hosni Mubaraks eskaliert. Anhänger des Präsidenten lieferten sich Straßenschlachten mit Demonstranten. Westerwelle mahnte daraufhin ein friedliches Vorgehen von beiden Seiten an und rief die Regierung Ägyptens auf, in den Dialog mit den Demonstranten zu treten. Für die Opposition ist das zu wenig. Westerwelle müsse „in Richtung Ägypten endlich eindeutig Stellung beziehen“ und auch Taten sprechen lassen, sagte etwa Grünenvorsitzende Claudia Roth.

Dass sich der sonst so redebedürftige und pointierte Westerwelle im Falle Mubarak Zurückhaltung auferlegt hat, ist jedoch berechtigt.

Denn die Freiheit, sein eigenes Schicksal zu lenken, ist eines jener Grundrechte, für die das ägyptische Volk gerade demonstriert. Würde Westerwelle Mubarak öffentlich zum Rücktritt auffordern, sich gar auf die Seite des säkulären Oppositionsführers Mohammed El-Baradei schlagen, wäre das eine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ägyptens. Die Fortsetzung eben jener Politik, für die die Staaten des Westens in den letzten Jahren kritisiert wurden.

Jedes Volk muss sich seine Freiheit auf den Straßen selbst erkämpfen und in den Parlamenten anschließend verteidigen können. Nur, wenn das ägyptische Volk die Reformen der kommenden Monate ungestört debattieren und steuern kann, wird es dem neuen, hoffentlich demokratischen Staat seine Absolution erteilen. Zuviel äußere Einmischung in diesen Emanzipationsprozess behindert ihn nicht nur, sondern konterkariert ihn gar. Denn ein vom Westen öffentlich unterstützter Oppositionsführer und möglicher Präsidentschaftskandidat El-Baradei müsste in den Augen der ägyptischen Demonstranten wie eine Marionette erscheinen. Darin dem Präsidenten Afghanistans, Hamid Karzai, nicht unähnlich.

Die Geschichte zeigt jedoch, dass der Weg zu Freiheit und Selbstbestimmung für ein Volk schmerzhafter und steiniger sein kann als erhofft. Dass die Euphorie der Revolution durch Verbitterung ersetzt werden kann. Der Französischen Revolution folgte der terreur der Jakobiner, der deutschen Märzrevolution von 1848 die monarchistische Konterrevolution von König Friedrich Wilhelm IV. Letztlich konnte sich das Volk nur dort emanzipieren, wo es immer wieder auf seine Rechte pochte.

Wenn Grünen-Chefin Roth also verlangt, dass sich die Bundesrepublik öffentlich gegen Mubarak ausspricht, verlangt sie zuviel. Denn auch solch eine Stellungnahme Westerwelles käme mittelfristig wieder zurück wie ein Bumerang. Allerdings würde dieser uns alle dann treffen. In jenem Moment nämlich, in dem klar wird, dass ein reformierter ägyptischer Staat auch wieder zur Autokratie werden kann. In dem Moment, in dem die Revolution beginnt, ihre Kinder zu fressen – und das ägyptische Volk weder Kraft noch Willen hat, sie daran zu hindern.

[ Dieser Text ist im Rahmen meiner journalistischen Ausbildung entstanden und spiegelt den Nachrichtenstand von Donnerstag, dem 3.2., 21 Uhr wider.]

Die Mär vom „Westen“

Während sich die Ereignisse in Ägypten in den letzten Tagen überschlugen, wurde „der Westen“ erheblich kritisiert. Das Problem daran: Die Kritik trifft nicht ihr Ziel.

Er toleriere nur Umstürze, wenn er sie selbst initiiert habe. Seine realpolitische Strategie habe sich als gescheitert erwiesen. Erst seit den jüngsten Aufständen habe sich auch auch die Sprache der westlichen Politik flugs geändert. Diese Kritik an pragmatischem Opportunismus und realpolitischer Doppelmoral ist nötig und berechtigt. Aber sie ist problematisch.

Denn es gibt keinen politischen „Westen“, der eine einheitliche Strategie gegenüber Ägypten in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben könnte. Es gibt vor allem die EU, deren Mitgliedsstaaten und die USA. Und alle drei agieren unabhängig voneinander. Was allzu schnell unter dem Begriff „der Westen“ zusammengefasst wird, bezeichnet eine kulturelle, wertgebundene Einheit. Aber keine geopolitisch-strategische.

Wie die drei Akteure in den letzten Jahren mit Ägypten umgegangen sind, zeigt das deutlich.

Die BRD konzentriert sich ihrer Zusammenarbeit auf die Förderung des wirtschaftlichen Sektors. Das ist klassische, realistische Außenpolitik. Auch die ersten Kommentare von Außenminister Guido Westerwelle und Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg waren realpoltisch motiviert. Sie warnten vor Instabilität und dem radikalen Islam.

Bei den USA ergibt sich das gleiche Bild. Die bilaterale HIlfe umfasst zwei Milliarden Dollar, 1,3 Milliarden davon als direkte Militärhilfe. Die restlichen 700 Millionen fließen via USAID in verschiedene zivilgesellschaftliche Projekte sowie Programme, die die Governance-Qualität in Ägypten erhöhen sollen. Auch die USA waren zunächst äußerst zurückhaltend, die Menschenrechtssituation in Ägypten offen anzusprechen und Mubarak zu kritisieren. Stabilität war ihnen wichtiger.

Die EU ging anders vor. Ihr Programm für Ägypten umfasste zwischen 2007 und 2010 550 Millionen Euro und konzentrierte sich zu 60 Prozent auf Menschenrechte, Aufbau der Zivilgesellschaft und Justizreformen. Flankiert wurden diese Programme von ständigen Appellen an die ägyptische Regierung, die Menschenrechtsqualität zu verbessern. In ihren Berichte redet die EU kaum von etwas anderem. Auch mahnte Catherine Ashton, die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, bereits vergangenen Donnerstag die Einhaltung von Menschenrechte an. Von einer „Hofierung“ kann also keine Rede sein.

Die EU benutzt ihre enorme wirtschaftliche Macht als Hebel, um die Demokratie zu fördern. Für die Partnerländer bedeutet das: Nur, wer die Werte der EU übernimmt, kann die enormen Vorteile der EU, den Binnenmarkt etwa, nutzen. Diese Form der „soft power“, der Konditionalität hat sich vor allem in Osteuropa und der Türkei als äußerst erfolgreich erwiesen. Und sie unterscheidet sich in ihrer Konzeption fundamental von „hard power“, die vor allem die USA als größte Militärmacht des Planetens betreiben.

Den „Westen“ zu kritiseren, erweist sich da als Fehlschluss. Die USA und die einzelnen Nationalstaaten sollten die Adressaten von Kritik sein.