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Warum wir auf den Nahostkonflikt starren

Mittwoch, der 20. Februar 2013 @ 12:33

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Über Israels Koalitionsverhandlungen lesen wir alles, über die Millionen Tote im Kongo gar nichts. Der Nahostkonflikt ist die Obsession des Westens. Ein Erklärungsversuch.

Sie sind besessen. Das weiß ich, weil Sie diesen Artikel gerade freiwillig beginnen zu lesen; einen Artikel, der davon handelt, warum Leute wie Sie nicht aufhören können zu klicken, zu kommentieren und zu debattieren, wenn es um den Nahostkonflikt geht. Sie fühlen sich jetzt bestimmt ertappt. Keine Sorge, mir geht es genauso.

Wieviele Artikel haben wir schon zu diesem Konflikt gelesen, wie viele Bücher? Die Stunden, die wir im Geiste in Gaza, Bethlehem und Tel Aviv verbracht haben, haben wir nicht in unseren Gärten verbracht oder tauchend Unterwasser. Vielleicht wären Sie jetzt schon ein berühmter Rosenzüchter und ich könnte schon meinen 100. Tauchgang feiern, wenn wir nur von diesem Konflikt ablassen könnten.

Wir lesen über Tzipi Livnis Eintritt in die neue Regierung von Netanjahu, über Bürobrände bei mittelmäßigen Jerusalemer Fußballclubs und über unbezahlte Wasserrechnungen einer Kirche in der Jerusalemer Altstadt. So übersehen wir die anderen Konflikte der Welt. Wir googlen nicht nach dem Krieg im Kongo und interessieren uns nicht für die Friedenverhandlungen dort.

Der Nahostkonflikt beherrscht seit Jahrzehnten die Nachrichtenspalten

Der Nahostkonflikt hat es geschafft, eine eigene Art Relevanz zu produzieren.

Liegt es an der Erde im Nahen Osten? Die soll ja bekanntlich „heilig“ sein, aber glauben Sie mir, ich habe gerade nochmal nachgeschaut, die Erde hier sieht genauso aus wie in, sagen wir einmal, der Türkei. Wann haben Sie denn eigentlich die letzte Doku über die Türkei geschaut?

Vielleicht sind die Medien schuld, mit ihren 24/7-Nachrichtenzyklen, Livetickern und Blitz-Analysen? Die Medien, die Leute immer wieder mit der Nase auf den Nahostkonflikt stoßen? Aber Medien richten sich nach dem Interesse ihrer Leser und Zuschauer – und wir prahlen vielleicht vor unseren Freunden damit, dass wir wirklich umfassende Analysen zum Konflikt in Nagorno-Karabakh vermissen würden, aber lesen würden wir Geschichte dann doch nicht. Das Medien-Argument ist wie eine Katze, die sich selbst in den Schwanz beißen will: jeder applaudiert, wenn er es sieht, dauerhaft relevanter wird es dadurch allerdings nicht.

Es gibt Konflikte, die dauern genauso lang und forderten mehr Opfer

Selbst unsere Vergangenheit ist kein konklusives Argument – auch, wenn es so scheint. Wir könnten sagen: „Weil Deutschland für den Tod von 6 Millionen Juden verantwortlich ist und der restliche Westen den zionistischen Ball erst richtig ins Rollen brachte, schauen diese Länder auch heute noch auf die Region.“ Das stimmt natürlich, gerade im Falle von Deutschland, aber nicht mit aller Zwangsläufigkeit. Der Kashmir-Konflikt in den ehemaligen britischen Kolonien Indien und Pakistan findet kaum Erwähnung, Sri Lankas Bürgerkrieg nicht und über Namibia, in dem deutsche Kolonisten einst 70.000 Menschen ermordeten, hören wir auch nur wenig. Die Verantwortung des Westens erklärt es nicht allein.

„Dieser Konflikt dauert schon so lange“, könnten Sie jetzt einwenden. „Deswegen beschäftigen wir uns damit!“ Wirklich? Der Aufstand der Karen-Rebellen in Myanmar begann 1949, nur ein Jahr nach dem arabisch-israelischen Krieg. Sie könnten wahrscheinlich alle israelischen Premierminister in korrekter Reihenfolge aufzählen, aber kaum erklären, wer die Karen eigentlich sind. Könnte ich auch nicht. Es geht hier nicht um Dauer .

„Ständig gibt es Tote !“, wäre ein wichtiges Argument – und es stimmt auch. Hier sterben viel zu viele Menschen. Seit Beginn der 1. Intifada waren es laut der israelischen NGO B’Tselem rund 10.500. Aber im Kongo waren es seit 1998 rund 3.000.000 Menschen.

Warum also Gaza statt Garten?

Die Sicherheit von Israels Demokratie und die Exotik Palästinas – der Nahe Osten ist ein Reportertraum

Gerade weil der Nahostkonflikt vergleichsweise wenig Opfer fordert. Das ist eine banale, praktische Vorraussetzung für eine intensive Berichterstattung. Israel und Palästina sind fremd genug, um jede Nachrichtenseite und Fernsehsendung mit einem Hauch Exotik und Dramatik zu pfeffern, aber gleichzeitig ungefährlich genug, um diese Beiträge auch zu schreiben und zu drehen. Wer als westlicher Journalist über den Nahostkonflikt berichtet, darf die Freiheit und Sicherheit der israelischen Demokratie genießen während er Cowboy-Geschichten im Westjordanland produziert und das Pfeifen der Raketen aus Gaza dokumentiert. Es mag zynisch klingen, aber diese Region ist ein Reporterhimmel. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: 480 Journalisten sind allein Mitglied der israelischen Foreign Press Association, die Zahl dürfte in Wahrheit noch viel höher sein.

Hinzu kommen noch einmal tausende fremde Entwicklungshelfer und Aktivisten. Die NGO müssen ihre Daseinsberechtigung immer wieder belegen, deswegen veröffentlichen sie Pressemitteilung nach Pressemitteilung, organisieren Touren und verfolgen Projekte, die von Stadtgärtnern bis zum Graphic-Novel-Workshop reichen. Unterstützt werden die Hauptamtlichen von einer Schar Freiwilliger und Praktikanten, meistens gut ausgebildeten Akademikern aus Düsseldorf und Oslo, Manchester und Seattle.

Ich selbst bin ein Produkt dieser NGO-Maschine. Die Herbert-Quandt-Stiftung finanziert mir einen sechsmonatigen Aufenthalt, in dem ich studiere und als Journalist arbeiten kann; eine wunderbare Chance. Ich sehe aber auch, dass ich damit Teil eines größeren Nahost-Komplexes bin, indem sich politische, kulturelle, religiöse und geostrategische Interessen zu einem riesigen Knäuel verheddern, das unbeirrt durch die Nachrichtenspalten rollen kann und dadurch Aufmerksamkeit von anderen Konflikten abzieht.

5000 Jahre Geschichte und eine zentrale Lage

Aber diese Aufmerksamkeit hat ja gute Gründe: Jeder Stein in dieser Region ist greifbare, ewige Menschheitsgeschichte. Deswegen wird über die Wasserrechnung einer Kirche berichtet. Weil es nicht irgendeine Kirche ist, sondern die wichtigste der Christenheit. Was in der Grabeskirche geschieht, hallt in brasilianischen Favelas und chinesischen Untergrundkirchen wider und hat schon Weltmächte in den Krieg gezogen. Als Ariel Scharon über den Tempelberg marschierte, zitterte die muslimische Welt vor Empörung. 1967 verfielen selbst die säkularen Zionisten in einen kleinen neo-religiösen Rausch als israelische Fallschirmjäger die Klagemauer eroberten. Ein Armee-Rabbi blies dort den Schofar, einen Typ Trompete, mit dem schon die Mauern von Jericho zu Fall gebracht worden sein sollen – vor 4000 Jahren. Das kulturelle und symbolische Netz ist dicht gewebt. Jede Handlung kann hier in vielen verschiedenen Facetten schillern, aus sich selbst heraus, ohne externe Dramatisierung. Wenn sich Peer Steinbrück auf einen Eierlikör mit Genossen trifft, schillert nichts.

Aber die Bedeutung des Nahen Osten ist nicht nur auf dessen kulturelle und religiöse Dominanz gegründet, sondern auch auf dessen tatsächlicher geopolitischen Bedeutung. Diese Region war der Hauptbahnhof Afrikas, Europas und Asiens. Wer von einem der drei Kontinente zu einem anderen reisen wollte, kam fast zwangsläufig durch das Land, das heute Israel und Palästina bedecken. Wer es beherrschte, kontrollierte den Zugang zu Ägypten mit seinem fruchtbaren Niltal, den Zugang zu Syrien und dem heutigen Irak und weiter die Handelsrouten nach China und Indien. Mit der Erfindung von Flugzeug, Tanker, Auto hat sich dieses Problem etwas entschärft, aber alle drei brauchen noch Kerosin, Diesel, Benzin, um fortzukommen. Das Öl dafür stammt zwar zu großen Teilen aus den Golfstaaten. Aber global gesehen, ist das alles nur einen Steinwurf von Israel und Palästina entfernt.

Und der Bahnhof ist immer noch gut frequentiert! Seit Gründung Israels haben sich in dem Land 3 Millionen Menschen aus 90 Nationen niedergelassen und die Palästinenser sind durch Vertreibung, ökonomische Not und politische Enge inzwischen dermaßen weit verteilt über den Globus, dass einige Forscher schon von einer „palästinensischen Diaspora“ sprechen. Beide Gruppen, jüdische Einwanderer und palästinensische Auswanderer, leiten die Debatten und Probleme des Landes an die zurückgebliebenen Freunde per Mail, Skype, Twitter und Facebook weiter. Dieses Phänomen ist nicht neu. Der israelische Historiker Tom Segev zitiert in seinem Epos „1967“ aus sorgenvollen Briefen, die Israelis am Vorabend des 6-Tage-Krieges an ihre amerikanische Verwandtschaft schickten.

Die Konflikte in dieser Region finden sich in ähnlicher Form auch in den Industriestaaten des Westens

Der Immigranten-Staat Israel wirft mit großer Wucht Fragen auf, die sich auch die Staaten des Westens stellen. Hier leben ursprünglich europäische Juden mit jenen aus dem arabischen Raum zusammen, mehr noch stellen christliche und muslimische Palästinenser ein Viertel der Bevölkerung des Staates. Im Süden gibt es Beduinen-Stämme, auf den Golan-Höhen im Norden die Drusen. Jede durchschnittliche israelische Stadt scheint diverser als Berlin-Neukölln zu sein.

Die Gründer von Israel, zumeist europäische Juden, haben den Staat nach westlichem Vorbild modelliert; eine parlamentarische, pluralistische Demokratie. Sie wollten das Land, das in der Mitte der arabischen Welt liegt, zu einem geistigen Bruder der europäischen und nordamerikanischen Länder machen. An diesem Anspruch wird Israel heute noch gemessen. Deswegen ist die Empörung in Europa und den USA so groß, wenn Einwanderinnen aus Äthiopien ohne deren Einwilligung Verhütungsmittel gespritzt worden sein sollen oder die palästinensischen Staatsbürger diskriminiert werden. Eine Demokratie mache so etwas nicht, heißt es dann. Der amerikanische Journalist Thomas Friedman geht in seinem Buch „From Beirut to Jerusalem“ noch weiter: Er spekuliert, dass die Bürger Europas und Amerikas Israel so genau beobachten, weil Juden mit den 10 Geboten die ersten noch heute gültigen Moralgesetze der westlichen Welt vorgelegt hätten und sich selbst als Vorbild, als Licht unter den Nationen beschreiben. Wenn es dieses Land und Volk nicht schaffe, moralisch einwandfrei zu handeln, so beschreibt Friedman die Logik der Anderen, wer dann?

Keine andere Region der Erde vereint so viele Nachrichtenfaktoren

Wir glauben diese Region schon aus der Bibel, den verschiedenen Medien und persönlichen Gesprächen zu kennen. Wir haben Erwartungen, Meinungen, Assoziationen, wir urteilen schnell und scharf. So verstärkt sich die Debatte stetig selbst. Solides (Halb-)Wissen ist das Schmiermittel jeder Debatte: es senkt die Schwelle, zu diskutieren und seine Meinung zu sagen. Dabei bietet der Nahostkonflikt einen Luxus der anderen Konflikten unserer Zeit abgeht: eine klare übersichtliche Trennung zwischen den Gegnern entlang vermeintlicher ethnischer, religiöser und kultureller Linien. Israelis wie Palästinenser haben es geschafft, zwei starke, glaubwürdige Narrative zu entwickeln, die jeder Witterung durch Fakten standhalten. Sie sind wie breite, antike Säulen auf einem Hügel, an die sich der willige Diskutant anlehnen kann, mit Sonnenbrille und vor der Brust verschränkten Armen, um diese Länder zu betrachten und deren Bewohner nach den Guten und den Bösen zu ordnen, mit jener aggressiven Selbstgewissheit, die nur den Selbstgerechten eigen ist. So wird der Gaza-Krieg des vergangenen Jahres als nötige Verteidigung Israels oder als unnötiger Angriff auf ein diskriminiertes und eingesperrtes Volkes beschrieben. Nur selten lesen wir, dass es beides sein kann und tatsächlich ist: Verteidigung und Angriff.

Wenn die Bomben fallen oder Netanjahu um eine neue Koalition ringt, schaut dabei niemand auf Ihren Garten. Doch ist der bestimmt ein wahres Kleinod, der Augapfel der Nachbarschaft, das Eden der Reihenhaussiedlung und die Ruhe, die ich unterwasser einatme, ausatme, einatme ist unvergleichlich.

Aber Sie haben das bestimmt schon bemerkt. „Garten statt Gaza“ war natürlich nur ein überdrehter, rhetorischer Kunstgriff meinerseits, um Sie bei der Stange zu halten. Ein sachlich korrekter Vergleich lässt uns fragen: Welche andere Region der Welt könnte die Aufmerksamkeit so lenken wie es der Nahe Osten seit Jahrtausenden schafft?

Manche sind politisch äußerst wichtig, andere kulturell oder ökonomisch, ich aber kenne keinen Flecken, der in allen Punkten so bedeutend ist wie der Nahe Osten. Vielleicht ist diese Bedeutung nur eingebildet oder konstruiert, der Nahe Osten in Wahrheit ein Ballon, der erst fliegen kann, wenn wir genügend heiße Luft hinein gepumpt haben. Aber das ändert nichts am Resultat. Wir sind besessen, Exorzismus aussichtslos. Ob wir deswegen über den Tod eines Palästinensers oder eines Israelis wirklich prominenter berichten sollten als über den Tod eines Kongolesen ist eine andere Frage.

Aber vielleicht stimmt das ja auch alles nicht, was ich hier geschrieben habe. Sagen Sie mir, was Sie denken. Aber Vorsicht, es könnte ein Stück dauern bis ich Ihre Kommentare lese. Die Koalitionsverhandlungen in Israel werden intensiver. Ich muss erst wissen, wie sie ausgehen.

Ich danke Ahoi Polloi, der mich bei Twitter auf das Argument der selbstverstärkenden Debatte brachte. Er ist übrigens nicht nur ein guter Spieler im Gedankenpingpong, sondern auch brillianter Cartoonist.

4 Kommentare auf „Warum wir auf den Nahostkonflikt starren“

  1. Dieter

    Ich habe den Artikel noch nicht sehr intensiv gelesen, aber eine naheliegende Begründung habe ich nicht gefunden: Über den Nahost-Konflikt wird auch deshalb berichtet, weil man berichten kann. Das ist so ähnlich wie der Betrunkene, der seinen verlorenen Schlüsselbund hauptsächlich unter einer Laterne sucht. Woanders hat er nämlich kaum eine Chance, den Schlüssel zu finden.

    Der Kongo ist so riesig und unerschlossen, daß Recherche nur schwierig möglich ist. Die meisten westlichen Reporter sind außerdem weiß, da fällt man direkt auf. Der Krieg im Kongo stellt aber auch nicht Gefahr eines Überspringens bereit. Na ist gut, er kann auf Ruanda überspringen, das ist auch noch weit weg.

    Es gibt aber natürlich auch andere Gründe, warum Israel uns beschäftigt. Im Kalten Krieg war es zum Teil ein Stellvertreter-Krieg. Vor allem aber ist es ein Krieg mit einem Teilnehmer, an den man erhöhte Ansprüche stellen kann, weil er eine Demokratie und ein Rechtsstaat ist. Die Berichterstattung über Indochina und Algerien kann ich nicht bewerten, dafür bin ich zu jung. Aber der Vietnamkrieg erhielt seine Brisanz doch auch dadurch, daß eine Demokratie zu Mitteln griff, die nicht zu ihr passen (Flächenbombardierung, Vertreibung, Massaker). Wie vielen Leuten ist der Krieg in Indonesien überhaupt ein Begriff (der jetzt in einem Dokumentarfilm abgehandelt wird), wieviele wissen, daß Präsident Assad Senior eine ganze Stadt mit Aufständischen auslöschen ließ? Das ist doch uninteressant, weil man ohnehin nichts dran machen kann.

    Beim Schreiben fällt mir ein, daß es ein bißchen so ist, als ob man jemanden dabei sieht, wie er seinen Hund auf den Gehweg kacken läßt: Wenn es jemand halbwegs gepflegtes ist, sprechen wir ihn vielleicht darauf an. Vielleicht haben wir keinen Erfolg, aber wir laufen auch nicht Gefahr, eins auf die Fresse zu kriegen. Ist es allerdings ein leicht alkoholisierter Kampfhundbesitzer werden wir wohl den Mund halten.

    Es gibt noch andere Gründe, aber für den Moment reicht das erstmal.

    LG Dieter

    1. Rico Grimm

      Lieber Dieter, dass über den Konflikt berichtet wird, weil darüber berichtet werden kann, habe ich erwähnt, wenn auch nicht in explizit diesen Worten. Gefreut habe ich mich über den Betrunkenen-Vergleichs. Denn jedes Mal, wenn ich ihn lese, muss ich unwillkürlich lachen. Da steckt einfach zu viel Wahrheit drin.

  2. Heiko

    Lieber Rico,

    durch die Launen der Mikrobiologie ans Bett gefesselt und des Schlafens etwas überdrüssig bin ich gerade auf Streiftour durch die Welten des Internets. In den letzten Monaten frage ich mich immer stärker, wann es eigentlich zum Bruch zwischen mir und dem Journalismus gekommen ist, den ich eigentlich immer sehr verehrt habe. Menschen, die mit Wort und Bild Dinge erklären, die uns eigentlich so fern sind. Begleiter auf einer Reise durch die Welt, gelegentlich gar Reiseführer. Entdeckungshelfer. Geistige Entwicklungshelfer. Und ich fürchte, dass die Antwort auf meine Frage auch zum Teil die Antwort auf die Deinige ist…

    Gerade bei den entscheidenden Themen stelle ich immer mehr fest, dass die Grundsätze der Politik und des freien Marktes scheinbar auch im Journalismus gelten: Fressen oder gefressen werden. Statt Meinungsvielfalt setzt sich Einfalt durch, statt kunstvoll erschaffenen Gerichten Junk-Food, statt komplexer Darstellungen die leichte Erklärung – denn mehr als 20 oder 30 Sekunden wird vor allem im Fernsehen für einen Sachverhalt nicht gegeben. Der Printjournalismus eifert hier dem Medium Fernsehen gerne nach, in der irrigen Annahme, dass wenn das gedruckte Wort – sei es nun virtuell oder auf gestorbenem Holz transportiert – nur das Fernsehen genau genug nachahmt, dann endlich sinkende Auflagen wirkungsvoll bekämpft werden können. Und ganz wichtig: das „Wording“ muss stimmen. Nur wenn alle das gleiche sagen, dann stimmt es, und es sind gute Nachrichten. Oder anders: wenn alle von Reuters und dpa abschreiben, merkt keiner, dass der Journalismus nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Er will nicht aufklären, erhellen oder ausleuchten – er will Zuschauer und Klicks in Massen. Junkjood. Frei nach Henry Ford: Bei uns findet jeder, was er möchte, so lange es die Massenware ist. Qualität wird nicht in Wahrheitsgehalt, Seriosität oder Stimmigkeit gemessen – die bloße Zuschauerzahl bzw. Leserzahl entscheidet. Journalismus als Wirtschaft, als Produkt, als Ware. Massenware. Massentaugliche Ware. Und alle Welt wundert sich, dass niemand mehr auf ein Nachrichtenmagazin oder die Zeitung von morgen oder nächster Woche wartet, wo doch das Geschehen im hier und jetzt ist. Genau dieses hier und jetzt, dass einigen Journalisten das Gefühl gibt, Macht zu haben, die sie nutzen müssten – und die nicht mehr berichten oder erklären, sondern ganz klar eigene Haltung und Meinung durchsetzen wollen und darüber die Distanz zum Gegenstand verlieren, ohne dem Konsumenten dies auch nur im Ansatz kenntlich zu machen.

    All das hat für mich auch viel mit der Frage zu tun, warum wir so vom Palästina-Konflikt besessen scheinen. Die Bedingungen sind optimal: Israel ist überschaubar – etwas mehr als 8 Millionen Einwohner, ungefähr so groß wie Hessen, dazu Küste (komisch, oder? Mit Ausnahme von Afghanistan: über welches Land ohne Küste/Meeresanbindung wird in den Medien intensiver berichtet?). Also gefühlt beherrschbar. Es gibt klar verteilte Rollen: jüdische Mehrheit (ca. 6 Millionen), muslimische Minderheit (ca. 2 Millionen), dazu eine Prise Exotik (ein paar Christen gibt es auch noch, tolle Landschaften ohnehin). Ebenfalls klar verteiltes Oben und Unten: Jüdische Mehrheit als Träger des Staates, muslimische Minderheit als Menschen zweiter Klasse. Also Konflikte mit klaren Rollen und Grenzen, gleichzeitig mit Potential zu Grenzübertritten (Besatzer Israel als neuer Terrorist?). Dazu die existenzielle Frage: Israel, hineingepflanzt in eine fremde Landschaft von Staaten, die sich einer Verantwortung entledigen wollten (tatsächlich gab es mal die Überlegung, Israel in Brasilien oder Afrika anzusiedeln), fortan als gefühlte klaffende Wunde einer arabischen Welt, die dem ohnmächtig zusehen musste. Mithin also von Anfang an die Frage der Existenz: Darf Israel überhaupt überleben? Dieser Kampf um eben dieses nackte Überleben beschäftigt die im Land befindlichen Menschen ebenso wie die jüdische und die palästinensische Diaspora, und zieht damit die Welt ein Stückchen in den Konflikt hinein, den überall sind genug Menschen, die es betrifft. Immer wieder Gastauftritte hoher Würdenträger aus dem Ausland sind also garantiert. Hinzu kommt die Singularität Israels: es ist der einzige originär jüdische Staat, oft wird also Religion und Staat verwechselt oder verschmolzen. Der Untergang Israels als der (zweite) Untergang des Judentums. Und natürlich, Du hast es erwähnt: der permanente Kriegszustand, ohne das wirklich Krieg herrscht. Der blutigste Krieg war der Jom-Kippur-Krieg mit etwa 10.000 Toten, Verwundeten oder gefangen genommenen israelischen Soldaten. Jeder Tote ist einer zu viel. Aber hier kann man noch jeden Toten zeigen. Einzeln. Mit Foto. Es ist eben kein Massensterben wie Vietnam, Kongo oder der Bürgerkrieg in Mexiko. Wenn Hamas Raketen auf Israel abfeuert, so haben selbst die Abendnachrichten Zeit, jeden Einschlag gesondert kommentiert zu zeigen. Und die Journalisten sind direkt vor Ort – in der Regel sogar ohne Schutzweste. Krieg als 3D-Erlebnis, mit Quasi-Überlebensgarantie. Und einem Nachtleben nach der Arbeit. Die zahlreichen Angriffe im Gazastreifen lassen sich immerhin noch irgendwie auf Krankenhäuser und Schulen fokussieren. Elend verkauft sich. Abwechslung auch.

    Und so langsam schwant einem: Eigentlich ist das ganze doch sehr ähnlich einer großen Daily-Soap, in der man meint, alle wesentlichen Darsteller zu kennen, und egal wie: man hat eine Meinung dazu. Es gibt die existentiellen und die kleineren Konflikte, die Skandale, die ständigen Wendungen, die Fragen was gut und was böse ist. Egal, worüber man berichtet: zumindest die Kulisse ist jedem vertraut. Dramatische Bilder und Emotionen, ein stetes Hoffen und Bangen. Eine völlig zersplitterte Parteienlandschaft in Israel, die weitere Wendungen garantiert, dazu 7 Geheimdienste, die auch den Thriller-Faktor noch erhöhen. Und natürlich die niemals öffentlich bestätigte Tatsache, dass Israel Atommacht ist. Diejenige, die nach der USA einem Einsatz von Atomwaffen am nächsten ist. Gefühlt. Und da eben diese USA auch noch als Garantiemacht auftritt, ist die globale Dimension jederzeit herstellbar. Die moralische Dimension sowieso.

    Eigentlich ist zum Nahostkonflikt schon alles gesagt. Nur noch nicht von allen, und noch nicht bei jeder Gelegenheit. Letztendlich ist der Nahostkonflikt so etwas wie ein kleines Shakespeare-Universum: Alle Dramen dieser Welt auf einer kleinen Bühne, für jeden etwas dabei. Sogar Filme über die Liebe zwischen einem jüdischen israelischen Mann und einem arabischen palästinensischen Mann gibt es – Romeo und Mehmet vor dramatischer Kulisse, für Menschen, die so gar nichts mit Politik zu tun haben wollen, die Romantik schätzen und dabei kleinen Minderheiten huldigen möchten – jeder der beiden dann auch noch in seinem eigenen Elend. Und seien wir ehrlich: die meisten Israelis sind immerhin weis. Wer kann sich schon so richtig in die Haut eines Schwarz-Kongolesen einfühlen, der AIDS durch Sex mit Jungfrauen heilen möchte und an Geister glaubt? Oder 10jährige Jungs an der Waffe ausbildet, während er 10jährige Mädchen vergewaltigt? Wie bei Shakespeare so können wir auch hier sagen: sowohl für die Masse der vermeintlichen Fastfood-Junkies sind hier jede Menge Häppchen dabei, als auch für die kritisch-intellektuellen, die Raum zu deutlich mehr Tiefgang haben wollen. Sogar für die Psychoanalytiker ist das Feld bestellt: Israelpolitik als Vergangenheitsbewältigung. Jeder Verschwörungstheoretiker hat seine helle Freude. Und alle Seiten können jederzeit miteinander diskutieren oder sich einfach nur vor laufenden Kameras beleidigen. Dies ist dann endgültig der Anschlusspunkt: Weil wir alle glauben, etwas über den Nahen Osten zu wissen, und meinen, etwas über die jüdische Vergangenheit gelernt zu haben, können wir das auch jederzeit zum Thema machen. Journalisten nicht als Wissensquelle, sondern als Stichwortgeber. Und wenn wir es nicht tun, tun es andere, und wir reagieren dann darauf – erfreut, mitreden zu können. Loszuwerden, was schon immer mal gesagt werden musste. Früher war einmal die Bibel dieses große gemeinsame Thema, später Schriften der Aufklärung, „klassische“ Literatur oder antike Sagen. Dann irgendwann die großen Massenfilme. Und nun ein Thema, dass uns eigentlich schon immer begleitet. Gerade uns Deutsche. Wie uns immer wieder versichert wird. Staatsräson. Wir werden zwangsweise in den Konflikt hineingestürzt, weil genug Menschen so viel Interesse an ihm haben, dass sie darüber reden. Es umgibt uns, und unsere Umwelt formt unsere Gedanken. Bewusstes vermeiden: unmöglich. Darum hat das Thema Nahostkonflikt auch den Wandel im Journalismus überlebt – im Gegensatz zu Tibet, dem Militärisch-Industriellen Komplex oder dem Waldsterben. Egal in welcher geistigen Höhe und textlichen Länge ich mich bewege – im Nahostkonflikt gibt es für alles einen Anknüpfungspunkt. Jederzeit auch emotionalisierbar. Oder intellektualisierbar.

    Deshalb also Gaza statt Garten. Über den Garten können wir nur mit unserem Nachbarn reden oder den Gartenfreunden – über Palästina mit jedem. Den jeder hat dazu eine Meinung oder kann dazu etwas sagen. Der Palästina-Konflikt ist die Lingua Franca der Gesellschaft – und immerhin spannender als das Wetter – so wie neben ihr nur das (angebliche) Immigrantenproblem, die Homosexuellen und seit ein paar Jahren der Terror. Aber Palästina ist so schön weit weg. Und während es schnell passieren kann, dass das Gegenüber sich als homosexuell oder homosexuellenfeindlich outet, so kommt es doch höchst selten vor, dass jemand sagt „ich bin Jude/Palästinenser und komme gerade von da“. Leidenschaft und Diskussionsnähe durch ferne zum Gegenstand, so richtig Experte ist aber niemand, was wiederum stetes Wachstum der Erkenntnis und irgendwie auch eine Form von Waffengleichheit sichert. Aber weil man ja auch demnächst wieder mitreden können möchte, liest man sich mal eben den nächsten Artikel zum Thema durch. Man will ja nicht als ahnungslos gelten.

    Kurzum: der Nahostkonflikt ist schlicht ein unerschöpfliches Themenrepertoir, bei dem sich jeder in jeder Rolle gefallen und darstellen kann, die Entfernung zum Gegenstand ist groß genug, um Schmerzfreiheit weitestgehend zu garantieren, während gleichzeitig das Identifikationspotential für jeden vorhanden ist. Gibt es ein Wort für ernstes Entertainment? Vielleicht ja gesellschaftliche „Unterhaltung“ im eigentlichen Sinne: man unterhält sich miteinander, ohne das Gefühl zu haben, trivial zu sein. Empfindet sich und seine Worte als bedeutungsvoll, zumindest als potentiell bedeutungsschwanger.

    Was mich abschließend zu der Bemerkung bringt: Ich bin ein Liebhaber von Sprache. Von klaren Gedanken. Von guten Argumenten. Quasi Shakespeare, Aristoteles und Hitchens gleicher Maßen. Mit einem Faible für Reflexionen. Und der steten Frage: wie bringt man all dies Schülern bei, so dass sie wachsen können und nicht von der Wucht der Informationsflut hinweggespült werden? Da ich Deine Texte gerne lese, weil ich sie vor allem als authentisch und ein ganzes Stück weit ungeschliffen empfinde, dachte ich in selbstüberschätzender Weise, dass ich Dich vielleicht mit einigen Anregungen ebenfalls ein Stück des intellektuellen Weges begleiten kann. Oder zumindest Reibungsfläche zu bieten habe.

    Liebe Grüße

    Heiko

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