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(Deutsch) Warum wir auf den Nahostkonflikt starren

Wednesday February 20th, 2013 @ 12:33 PM

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4 Comments on "(Deutsch) Warum wir auf den Nahostkonflikt starren"

  1. Dieter

    Ich habe den Artikel noch nicht sehr intensiv gelesen, aber eine naheliegende Begründung habe ich nicht gefunden: Über den Nahost-Konflikt wird auch deshalb berichtet, weil man berichten kann. Das ist so ähnlich wie der Betrunkene, der seinen verlorenen Schlüsselbund hauptsächlich unter einer Laterne sucht. Woanders hat er nämlich kaum eine Chance, den Schlüssel zu finden.

    Der Kongo ist so riesig und unerschlossen, daß Recherche nur schwierig möglich ist. Die meisten westlichen Reporter sind außerdem weiß, da fällt man direkt auf. Der Krieg im Kongo stellt aber auch nicht Gefahr eines Überspringens bereit. Na ist gut, er kann auf Ruanda überspringen, das ist auch noch weit weg.

    Es gibt aber natürlich auch andere Gründe, warum Israel uns beschäftigt. Im Kalten Krieg war es zum Teil ein Stellvertreter-Krieg. Vor allem aber ist es ein Krieg mit einem Teilnehmer, an den man erhöhte Ansprüche stellen kann, weil er eine Demokratie und ein Rechtsstaat ist. Die Berichterstattung über Indochina und Algerien kann ich nicht bewerten, dafür bin ich zu jung. Aber der Vietnamkrieg erhielt seine Brisanz doch auch dadurch, daß eine Demokratie zu Mitteln griff, die nicht zu ihr passen (Flächenbombardierung, Vertreibung, Massaker). Wie vielen Leuten ist der Krieg in Indonesien überhaupt ein Begriff (der jetzt in einem Dokumentarfilm abgehandelt wird), wieviele wissen, daß Präsident Assad Senior eine ganze Stadt mit Aufständischen auslöschen ließ? Das ist doch uninteressant, weil man ohnehin nichts dran machen kann.

    Beim Schreiben fällt mir ein, daß es ein bißchen so ist, als ob man jemanden dabei sieht, wie er seinen Hund auf den Gehweg kacken läßt: Wenn es jemand halbwegs gepflegtes ist, sprechen wir ihn vielleicht darauf an. Vielleicht haben wir keinen Erfolg, aber wir laufen auch nicht Gefahr, eins auf die Fresse zu kriegen. Ist es allerdings ein leicht alkoholisierter Kampfhundbesitzer werden wir wohl den Mund halten.

    Es gibt noch andere Gründe, aber für den Moment reicht das erstmal.

    LG Dieter

    1. Rico Grimm

      Lieber Dieter, dass über den Konflikt berichtet wird, weil darüber berichtet werden kann, habe ich erwähnt, wenn auch nicht in explizit diesen Worten. Gefreut habe ich mich über den Betrunkenen-Vergleichs. Denn jedes Mal, wenn ich ihn lese, muss ich unwillkürlich lachen. Da steckt einfach zu viel Wahrheit drin.

  2. Heiko

    Lieber Rico,

    durch die Launen der Mikrobiologie ans Bett gefesselt und des Schlafens etwas überdrüssig bin ich gerade auf Streiftour durch die Welten des Internets. In den letzten Monaten frage ich mich immer stärker, wann es eigentlich zum Bruch zwischen mir und dem Journalismus gekommen ist, den ich eigentlich immer sehr verehrt habe. Menschen, die mit Wort und Bild Dinge erklären, die uns eigentlich so fern sind. Begleiter auf einer Reise durch die Welt, gelegentlich gar Reiseführer. Entdeckungshelfer. Geistige Entwicklungshelfer. Und ich fürchte, dass die Antwort auf meine Frage auch zum Teil die Antwort auf die Deinige ist…

    Gerade bei den entscheidenden Themen stelle ich immer mehr fest, dass die Grundsätze der Politik und des freien Marktes scheinbar auch im Journalismus gelten: Fressen oder gefressen werden. Statt Meinungsvielfalt setzt sich Einfalt durch, statt kunstvoll erschaffenen Gerichten Junk-Food, statt komplexer Darstellungen die leichte Erklärung – denn mehr als 20 oder 30 Sekunden wird vor allem im Fernsehen für einen Sachverhalt nicht gegeben. Der Printjournalismus eifert hier dem Medium Fernsehen gerne nach, in der irrigen Annahme, dass wenn das gedruckte Wort – sei es nun virtuell oder auf gestorbenem Holz transportiert – nur das Fernsehen genau genug nachahmt, dann endlich sinkende Auflagen wirkungsvoll bekämpft werden können. Und ganz wichtig: das “Wording” muss stimmen. Nur wenn alle das gleiche sagen, dann stimmt es, und es sind gute Nachrichten. Oder anders: wenn alle von Reuters und dpa abschreiben, merkt keiner, dass der Journalismus nur noch ein Schatten seiner selbst ist. Er will nicht aufklären, erhellen oder ausleuchten – er will Zuschauer und Klicks in Massen. Junkjood. Frei nach Henry Ford: Bei uns findet jeder, was er möchte, so lange es die Massenware ist. Qualität wird nicht in Wahrheitsgehalt, Seriosität oder Stimmigkeit gemessen – die bloße Zuschauerzahl bzw. Leserzahl entscheidet. Journalismus als Wirtschaft, als Produkt, als Ware. Massenware. Massentaugliche Ware. Und alle Welt wundert sich, dass niemand mehr auf ein Nachrichtenmagazin oder die Zeitung von morgen oder nächster Woche wartet, wo doch das Geschehen im hier und jetzt ist. Genau dieses hier und jetzt, dass einigen Journalisten das Gefühl gibt, Macht zu haben, die sie nutzen müssten – und die nicht mehr berichten oder erklären, sondern ganz klar eigene Haltung und Meinung durchsetzen wollen und darüber die Distanz zum Gegenstand verlieren, ohne dem Konsumenten dies auch nur im Ansatz kenntlich zu machen.

    All das hat für mich auch viel mit der Frage zu tun, warum wir so vom Palästina-Konflikt besessen scheinen. Die Bedingungen sind optimal: Israel ist überschaubar – etwas mehr als 8 Millionen Einwohner, ungefähr so groß wie Hessen, dazu Küste (komisch, oder? Mit Ausnahme von Afghanistan: über welches Land ohne Küste/Meeresanbindung wird in den Medien intensiver berichtet?). Also gefühlt beherrschbar. Es gibt klar verteilte Rollen: jüdische Mehrheit (ca. 6 Millionen), muslimische Minderheit (ca. 2 Millionen), dazu eine Prise Exotik (ein paar Christen gibt es auch noch, tolle Landschaften ohnehin). Ebenfalls klar verteiltes Oben und Unten: Jüdische Mehrheit als Träger des Staates, muslimische Minderheit als Menschen zweiter Klasse. Also Konflikte mit klaren Rollen und Grenzen, gleichzeitig mit Potential zu Grenzübertritten (Besatzer Israel als neuer Terrorist?). Dazu die existenzielle Frage: Israel, hineingepflanzt in eine fremde Landschaft von Staaten, die sich einer Verantwortung entledigen wollten (tatsächlich gab es mal die Überlegung, Israel in Brasilien oder Afrika anzusiedeln), fortan als gefühlte klaffende Wunde einer arabischen Welt, die dem ohnmächtig zusehen musste. Mithin also von Anfang an die Frage der Existenz: Darf Israel überhaupt überleben? Dieser Kampf um eben dieses nackte Überleben beschäftigt die im Land befindlichen Menschen ebenso wie die jüdische und die palästinensische Diaspora, und zieht damit die Welt ein Stückchen in den Konflikt hinein, den überall sind genug Menschen, die es betrifft. Immer wieder Gastauftritte hoher Würdenträger aus dem Ausland sind also garantiert. Hinzu kommt die Singularität Israels: es ist der einzige originär jüdische Staat, oft wird also Religion und Staat verwechselt oder verschmolzen. Der Untergang Israels als der (zweite) Untergang des Judentums. Und natürlich, Du hast es erwähnt: der permanente Kriegszustand, ohne das wirklich Krieg herrscht. Der blutigste Krieg war der Jom-Kippur-Krieg mit etwa 10.000 Toten, Verwundeten oder gefangen genommenen israelischen Soldaten. Jeder Tote ist einer zu viel. Aber hier kann man noch jeden Toten zeigen. Einzeln. Mit Foto. Es ist eben kein Massensterben wie Vietnam, Kongo oder der Bürgerkrieg in Mexiko. Wenn Hamas Raketen auf Israel abfeuert, so haben selbst die Abendnachrichten Zeit, jeden Einschlag gesondert kommentiert zu zeigen. Und die Journalisten sind direkt vor Ort – in der Regel sogar ohne Schutzweste. Krieg als 3D-Erlebnis, mit Quasi-Überlebensgarantie. Und einem Nachtleben nach der Arbeit. Die zahlreichen Angriffe im Gazastreifen lassen sich immerhin noch irgendwie auf Krankenhäuser und Schulen fokussieren. Elend verkauft sich. Abwechslung auch.

    Und so langsam schwant einem: Eigentlich ist das ganze doch sehr ähnlich einer großen Daily-Soap, in der man meint, alle wesentlichen Darsteller zu kennen, und egal wie: man hat eine Meinung dazu. Es gibt die existentiellen und die kleineren Konflikte, die Skandale, die ständigen Wendungen, die Fragen was gut und was böse ist. Egal, worüber man berichtet: zumindest die Kulisse ist jedem vertraut. Dramatische Bilder und Emotionen, ein stetes Hoffen und Bangen. Eine völlig zersplitterte Parteienlandschaft in Israel, die weitere Wendungen garantiert, dazu 7 Geheimdienste, die auch den Thriller-Faktor noch erhöhen. Und natürlich die niemals öffentlich bestätigte Tatsache, dass Israel Atommacht ist. Diejenige, die nach der USA einem Einsatz von Atomwaffen am nächsten ist. Gefühlt. Und da eben diese USA auch noch als Garantiemacht auftritt, ist die globale Dimension jederzeit herstellbar. Die moralische Dimension sowieso.

    Eigentlich ist zum Nahostkonflikt schon alles gesagt. Nur noch nicht von allen, und noch nicht bei jeder Gelegenheit. Letztendlich ist der Nahostkonflikt so etwas wie ein kleines Shakespeare-Universum: Alle Dramen dieser Welt auf einer kleinen Bühne, für jeden etwas dabei. Sogar Filme über die Liebe zwischen einem jüdischen israelischen Mann und einem arabischen palästinensischen Mann gibt es – Romeo und Mehmet vor dramatischer Kulisse, für Menschen, die so gar nichts mit Politik zu tun haben wollen, die Romantik schätzen und dabei kleinen Minderheiten huldigen möchten – jeder der beiden dann auch noch in seinem eigenen Elend. Und seien wir ehrlich: die meisten Israelis sind immerhin weis. Wer kann sich schon so richtig in die Haut eines Schwarz-Kongolesen einfühlen, der AIDS durch Sex mit Jungfrauen heilen möchte und an Geister glaubt? Oder 10jährige Jungs an der Waffe ausbildet, während er 10jährige Mädchen vergewaltigt? Wie bei Shakespeare so können wir auch hier sagen: sowohl für die Masse der vermeintlichen Fastfood-Junkies sind hier jede Menge Häppchen dabei, als auch für die kritisch-intellektuellen, die Raum zu deutlich mehr Tiefgang haben wollen. Sogar für die Psychoanalytiker ist das Feld bestellt: Israelpolitik als Vergangenheitsbewältigung. Jeder Verschwörungstheoretiker hat seine helle Freude. Und alle Seiten können jederzeit miteinander diskutieren oder sich einfach nur vor laufenden Kameras beleidigen. Dies ist dann endgültig der Anschlusspunkt: Weil wir alle glauben, etwas über den Nahen Osten zu wissen, und meinen, etwas über die jüdische Vergangenheit gelernt zu haben, können wir das auch jederzeit zum Thema machen. Journalisten nicht als Wissensquelle, sondern als Stichwortgeber. Und wenn wir es nicht tun, tun es andere, und wir reagieren dann darauf – erfreut, mitreden zu können. Loszuwerden, was schon immer mal gesagt werden musste. Früher war einmal die Bibel dieses große gemeinsame Thema, später Schriften der Aufklärung, “klassische” Literatur oder antike Sagen. Dann irgendwann die großen Massenfilme. Und nun ein Thema, dass uns eigentlich schon immer begleitet. Gerade uns Deutsche. Wie uns immer wieder versichert wird. Staatsräson. Wir werden zwangsweise in den Konflikt hineingestürzt, weil genug Menschen so viel Interesse an ihm haben, dass sie darüber reden. Es umgibt uns, und unsere Umwelt formt unsere Gedanken. Bewusstes vermeiden: unmöglich. Darum hat das Thema Nahostkonflikt auch den Wandel im Journalismus überlebt – im Gegensatz zu Tibet, dem Militärisch-Industriellen Komplex oder dem Waldsterben. Egal in welcher geistigen Höhe und textlichen Länge ich mich bewege – im Nahostkonflikt gibt es für alles einen Anknüpfungspunkt. Jederzeit auch emotionalisierbar. Oder intellektualisierbar.

    Deshalb also Gaza statt Garten. Über den Garten können wir nur mit unserem Nachbarn reden oder den Gartenfreunden – über Palästina mit jedem. Den jeder hat dazu eine Meinung oder kann dazu etwas sagen. Der Palästina-Konflikt ist die Lingua Franca der Gesellschaft – und immerhin spannender als das Wetter – so wie neben ihr nur das (angebliche) Immigrantenproblem, die Homosexuellen und seit ein paar Jahren der Terror. Aber Palästina ist so schön weit weg. Und während es schnell passieren kann, dass das Gegenüber sich als homosexuell oder homosexuellenfeindlich outet, so kommt es doch höchst selten vor, dass jemand sagt “ich bin Jude/Palästinenser und komme gerade von da”. Leidenschaft und Diskussionsnähe durch ferne zum Gegenstand, so richtig Experte ist aber niemand, was wiederum stetes Wachstum der Erkenntnis und irgendwie auch eine Form von Waffengleichheit sichert. Aber weil man ja auch demnächst wieder mitreden können möchte, liest man sich mal eben den nächsten Artikel zum Thema durch. Man will ja nicht als ahnungslos gelten.

    Kurzum: der Nahostkonflikt ist schlicht ein unerschöpfliches Themenrepertoir, bei dem sich jeder in jeder Rolle gefallen und darstellen kann, die Entfernung zum Gegenstand ist groß genug, um Schmerzfreiheit weitestgehend zu garantieren, während gleichzeitig das Identifikationspotential für jeden vorhanden ist. Gibt es ein Wort für ernstes Entertainment? Vielleicht ja gesellschaftliche “Unterhaltung” im eigentlichen Sinne: man unterhält sich miteinander, ohne das Gefühl zu haben, trivial zu sein. Empfindet sich und seine Worte als bedeutungsvoll, zumindest als potentiell bedeutungsschwanger.

    Was mich abschließend zu der Bemerkung bringt: Ich bin ein Liebhaber von Sprache. Von klaren Gedanken. Von guten Argumenten. Quasi Shakespeare, Aristoteles und Hitchens gleicher Maßen. Mit einem Faible für Reflexionen. Und der steten Frage: wie bringt man all dies Schülern bei, so dass sie wachsen können und nicht von der Wucht der Informationsflut hinweggespült werden? Da ich Deine Texte gerne lese, weil ich sie vor allem als authentisch und ein ganzes Stück weit ungeschliffen empfinde, dachte ich in selbstüberschätzender Weise, dass ich Dich vielleicht mit einigen Anregungen ebenfalls ein Stück des intellektuellen Weges begleiten kann. Oder zumindest Reibungsfläche zu bieten habe.

    Liebe Grüße

    Heiko

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