(Fortlaufende) Gedanken zur Glaubwürdigkeitskrise der Medien

Vielleicht ist die gegenwärtige Vertrauenskrise der Medien auch ein Symptom für eine tiefergehende Krise. Die Bürger benutzen die Fehler der Journalisten, um diese in Kommentarspalten (also auf Plattformen, die die Medien selbst bereitstellen) aufzudecken und sich so ihrer eigenen Macht und und Handlungsfähigkeit zu vergewissern. In der Wirtschaft und der Politik haben sie diese ja längst eingebüßt: Streiks werden durch den globalen Wettbewerb unwirksam gemacht und Wahlen mit unterschiedlichen Ergebnissen führen doch erstaunlich oft zu der gleichen Politik. Wenn das stimmt, wären Journalisten ultimativ auch auf die anderen Eliten angewiesen, um wieder glaubwürdig zu werden, müssten aber natürlich zunächst das implizite Versprechen einlösen, dass sie geben, wenn sie eine Kommentarspalte einrichten: „Wir hören euch zu“. – 16.11.

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Auffällig ist, dass eine Konfliktlinie zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist, was als Manipulation gilt und was als handwerklicher Fehler. Das illustriert die Debatte um den einsamen Putin von Brisbane, die zwischen Stefan Niggemeier und der Tagesschau entbrannt ist. Der Chefredakteur fühlt sich zu unrecht angegriffen:

„Nun wirft uns Niggemeier vor, absichtlich [Hervorhebung durch mich] diesen Ausschnitt gewählt zu haben, in dem Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vom Kellner verdeckt ist, um so zu tun, als ob Putin allein am Tisch gesessen habe.“

Und das stimmt nicht. Niggemeier wirft ihnen vor, einen Fehler gemacht zu haben an einer Stelle und bei einem Thema, bei dem derzeit keine Fehler passieren dürfen. Er wirft ihnen vor, ungeschickt zu agieren, was Gniffke noch verschlimmert durch seine Antwort. Es ist schwer, eine Manipulation von einem Fehler zu unterscheiden, weil beides ähnlich aussehen kann, aber unterschieden wird, weil die Manipulation gewollt ist und der Fehler nicht. Helfen könnten mehr Informationen darüber, wie die Nachricht entstanden ist oder ein persönlicher Draht zu dem Reporter. Helfen würde auch Vertrauen; ein Teufelskreis. – 18.11.

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Dieser Daily-Dot-Artikel liefert eine wichtige Spur in der Vertrauenskrise:

Buzzfeed’s ability to dominate the dissemination of its articles over social media with only approximately two percent of population both knowing what Buzzfeed it and viewing it as a trusted news source is evidence that trust doesn’t matter anymore when it comes to online media—especially when its disseminated through Facebook.

Pew researcher Kenny Olmstead noted that Facebook has the tendency to make people forget what outlet produced a specific piece of information, like the New York Times, and instead substitute the platform they used to discover the content in question—Facebook.

Das heißt: Der Journalist hat die Arbeit, der Verteiler bekommt das Vertrauen. Es heißt aber auch, dass es für Medien schwierig ist, eine vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Lesern über Facebook aufzubauen. Und es heißt auch: Medien müssen viel stärker daran arbeiten, eine Plattform zu werden, die Leser gezielt ansteuern. – 19.11

(Dank Simon bin ich auf diesen Artikel gestoßen).

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Journalisten halten sich für die Guten, glauben qua Beruf auf der richtigen Seite aller Konflikte zu sein. Vielleicht ist das eine Ursache für den Zynismus, den viele von ihnen zur Schau stellen und er aus ihrer Sicht eine legitime Kritik ist. Wer glaubt, dass er im Recht sei, schreibt spitzer, titelt plakativer, urteilt härter. – 23.11.

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Wir sollten aber auch nicht alle Schuld den Journalisten zuschieben: Sie können nichts dafür, dass einige Menschen nicht verstehen, dass nicht jede Webseite und jedes Youtube-Video gleichermaßen ihre Aufmerksamkeit verdient. Dass die Informationen im Netz technisch gesehen zwar völlig gleich sind, aber deswegen nicht gleich viel wert. Wobei „Wert“ natürlich schwammig ist. Für die Kritiker der „Mainstream-Medien“ sind alternative Angebote schon wegen ihrer bloßen Existenz etwas wert während sich die „Mainstream-Medien“ mit jedem Beitrag neu rechtfertigen müssen. – 23.11.

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Ein Weg aus der Krise ist die persönliche Bande, die Ansprechbarkeit der Journalisten. Was dann aber auch dazu gehört: Redaktionelle Eingriffe, für die der Autor meistens nichts kann, sichtbar zu machen bspw. kommt es immer wieder vor, dass die Redaktion Überschriften so zuspitzt, dass sie falsch sind oder die Tatsachen verdrehen. Dafür rechtfertigen muss sich dann der Autor obwohl er der falsche Adressat ist. Wir könnten das mit einem einfachen Vermerk „Redigiert von..“ erreichen. Oder den Autoren das letzte Wort überlassen, so dass sie tatsächlich verantwortlich gemacht werden können. – 23.11.

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in loser Folge denke ich gerade über die vertrauenskrise nach, die unsere gesellschaft erschüttert. hier geht es zum ersten teil

Das Vertrauen bröckelt in einem kleinen, steten Beben

Ein paar noch unrunde Überlegungen zum allgegenwärtigen Misstrauen. Ich freue mich über eure Meinungen.

Die Vertrauenskrise, in der sich Deutschland und seine europäischen Nach barn befinden, ist umfassend. Die Bürger misstrauen den Politikern, der so genannten „politischen Klasse“, die abgehoben sei, machtversessen und egoman. Sie misstrauen den Bankern, die unsere Zivilisationen vor sechs Jahren im Mark erschüttern haben. Sie misstrauen den Chefs, die 30-mal so viel verdienen wie sie. Sie misstrauen den Journalisten, die in der Wulff-Affäre Bobbycars hinterhertelefonierten, sich in der Ukraine-Krise im Schützengraben wähnen und Demonstranten als „Wutbürger“, Nato-Kritiker als „Putin-Versteher“ schmähen. Ja selbst die Wissenschaftler und Staatsanwälte sind nach Plagiatsskandalen und fragwürdigen Klageschriften (Kachelmann, Wulff) nicht mehr unbefleckt.

Die Bürger misstrauen ihren Eliten, so viel ist sicher. Das ist verheerend, denn diese Eliten sind sichtbar, sie bewegen sich auf einer Bühne. Sie sind mit Sicherheit keine Vorbilder so wie Mario Götze ein Vorbild für kleine Fußball-Stars ist. Sie sind aber die Taktgeber der Gesellschaft; sie prägen, in dem sie vorleben. Ihre Verfehlungen vergrößern sich hundertfach und werden stilprägend. Wenn das Verhalten der Eliten anrüchig ist, wirkt es oft so als sei die ganze Gesellschaft verdorben. Mehr noch: Eliten verderben die Gesellschaft.

Beispiel: Ein Bundeskanzler nimmt kurz nach dem Ende seiner Amtszeit die Dienste eines großen Gaskonzerns an, den er vorher politisch protegiert hatte. Der Bundeskanzler hatte zuvor einen Eid geschworen, zum Wohle des Volkes zu arbeiten, den er aber hintenanstellt, sobald er es darf und sich lieber nimmt, was er kriegen kann. Warum sollte nicht auch ein kleiner Bürger jede legale Gelegenheit ergreifen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, wenn der Bundeskanzler es genauso macht? Und, wenn ein Rechtschaffener sieht, dass sein Mitbürger so handelt, warum sollte er es nicht selbst auch tun?

Noch ein Beispiel: Wenn Journalisten einen Gewerkschaftschef persönlich verunglimpfen, aber nicht gleichzeitig erklären, welche Rolle das Multi-Milliarden-Euro-Unternehmen spielt, das ihm gegenübersteht, dann wundere ich mich nicht, warum unter Nachbarn lieber geklagt wird als nachgefragt.

Wenn aber die Bürger sich grundlegend misstrauen, gerät alles ins Wanken. Dieser Effekt wird in unseren Zeiten verstärkt durch die allgemeine Unsicherheit, die Klimawandel, Wirtschaftskrisen und Terroranschläge hervorrufen. In einer guten Gesellschaft sind sich die Menschen sicher, dass ihre Mitbürger, auch wenn sie anders denken, leben, aussehen, noch eine Überzeugung teilen: dass es wichtig ist, was den Mitmenschen zustößt, dass sie das Gemeinwohl im Auge haben. Das Streben nach dem Gemeinwohl müsste sich wie ein kleiner Faden von der Ärztin zum Müllmann zum Offizier zur Studentin ziehen. Das würde Sicherheit schaffen. Denn, wenn ich weiß, dass sich mein Gegenüber auch um die Gemeinschaft kümmert, teile ich etwas mit ihm, habe weniger Angst vor ihm und traue ihm und meinen Mitmenschen generell mehr zu. Der Zusammenhalt wäre größer und die Gefahr von Radikalisierung und Extremismus kleiner.

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Ich spüre diese große Vertrauenskrise wie ein kleines, stetes Beben. Ich kann bisher keinen dieser Gedanken belegen. Das wollte ich an dieser Stelle aber auch noch nicht. Entsprechende Studien und Umfragen werde ich bei Gelegenheit heraussuchen. Über Hinweise bin ich dankbar.

 

SW #147 – Akzentuiertes Denken

In Deutschland glauben wir: Wenn jemand mit Akzent spricht, dann denkt er mit Akzent.

Shermin Langhoff, Intendantin Maxim Gorki Theater, KulturSpiegel 4/2014

Ein großes Narrenwerk – Über „Unendlicher Spaß“ von David Foster Wallace

Das Werk, das den Titel Unendlicher Spaß trägt, umfasst 1410 Seiten und 388 Fußnoten. Sein zentrales Thema ist die Sprachlosigkeit. Niemand würde zu viel riskieren, wenn er es deswegen für das Werk eines großen Narren hält, vermutlich auch für das größte Narrenwerk unserer Epoche.

Der Legende nach genossen die Narren an den Königshöfen des Mittelalters die Freiheit, jede Wahrheit ansprechen zu dürfen, solange sie in Witzen und Pointen gewandt daherkam. Der Narr konnte sich so ungeheure Anmaßungen König und Hofstaat gegenüber erlauben, weil niemand im Zweifel Ernst nehmen musste, was er sagte. Schließlich sei das alles ja nur ein Spaß gewesen. Ähnlich verhält es sich mit diesem Buch von David Foster Wallace. Es ist so dick, dass es potentielle Leser für einen schlechten Scherz halten wollen, und es nicht anrühren, obwohl es in diesem Buch tatsächlich einmal um etwas geht. Dieses Buch hat ein dringendes Anliegen, es will nicht einfach eine „gute Geschichte“ erzählen. Dringlichkeit ist selten geworden.

Foster Wallace berichtet in Unendlicher Spaß in lose verbundenen Episoden vom Da-Sein der Menschen von Boston, Massachusetts. Die Handlung war bei dessen Erscheinen 1996 leicht in die Zukunft versetzt. Die Interpreten sagen, dass die Geschichte hauptsächlich in den Jahren 2008 bis 2010 spielt. Wallace‘ zentrale Orte sind eine Tennisakademie auf einem Hügel und eine Suchtklinik am Fuß des Hügels. Es gibt unzählige Hauptfiguren. Aber die Wichtigsten sind: der 17-Jährige Hal Incandenza, Grammatikass und Tennis-Hoffnung, sein Vater Jim, der die Tennisakademie gegründet hatte, sich danach als Avantgarde-Filmer versuchte und schließlich Selbstmord beging, indem er seinen Kopf in die Mikrowelle steckte; Mario Incandenza, Bruder von Hal, kam schwer behindert zur Welt und war der Assistent von seinem Vater Jim. Zuletzt: Joelle van Dyne, Muse von Jim, so schön, dass sie entstellt ist. Sie trifft im Laufe des Buches Don Gately, einen Junkie, der sich durch Einbrüche seine Drogen finanziert und verliebt sich in ihn. Diese Auswahl ist bis zu einem gewissen Grad zufällig, da das Buch auf verschiedenen Ebenen gelesen werden kann und sich entsprechend auch die Bedeutung der Menschen darin ändert, ihnen ist aber gemein, dass sie die Eckpunkte eines Fünfecks sind, in dem sich die Bedeutung von Unendlicher Spaß kristallisiert.

Denn Hal leidet darunter, dass sein Vater Jim ihm so fremd war und sie kaum ein offenes Wort miteinander gesprochen hatten. Er wird süchtiger Kiffer. Sein Vater Jim litt auch darunter, wusste aber keinen Weg, er trank und begann Filme zu drehen, mit denen er seinen klugen Jungen Hal erreichen wollte. In einem dieser Filme ist die wunderschöne, rothaarige Joelle van Dyne Hauptfigur, sie tut darin nichts anderes als durch eine Drehtür zu gehen, aber jeder, der diesen Film zu Gesicht bekommt, verfällt ihm und wird zum sabbernden, stummen Kleinkind, das nur noch einen Wunsch kennt: den Film wieder zu schauen. Der Film ist die schlimmste Droge, die bisher erfunden wurde. Joelle selbst steht auf Kokain, das sie schließlich in eine Entzugsklinik führt, wo sie den Schmerztabletten-Junkie Don Gately trifft. Es gibt in dem ganzen Buch nur wenige Menschen, die nicht süchtig sind oder süchtig waren. Einer von ihnen ist Mario Incandenza, der ein großes Schloss um den Körper tragen muss, weil er sonst umfallen würde. Ausnahmslos jede Figur in Unendlicher Spaß ist deformiert, am Körper, im Geist, für David Foster Wallace scheint das keinen elementaren Unterschied zu machen. Für ihn scheint das die unabänderliche Begleiterscheinung menschlicher Existenz zu sein. Behinderung ist menschlich. Seltsam ist dann, das fast nichts, was diese behinderten Figuren tun, auch human ist. Dieser Widerspruch ist die wichtigste Plotlinie des ganzen Buches, sie bewegt sich nicht horizontal in der Zeit fortschreitend, sondern vertikal, immer tiefer hinein: Es ist der Graben zwischen der eigenen Anfälligkeit der Menschen und ihrer Härte nach außen.

Diesen Graben könnte die Sprache überwinden, wenn die Figuren in der Lage wären, sich klar und bedeutungsvoll auszudrücken. Sie lenken sich aber lieber ab, halten die Welt und ihre Gefühle von sich, mit allerhand Substanzen und eingebildet Substanziellem, mit Kokain, Schmerzmitteln, Valium, Speed, Marihuana, Jack Daniels, dem Spiel, Erfolg, und mit Ironie, der billigsten Droge, die einen Menschen seiner Welt entfremden kann. Die Ironie ist der Blinddarm der Massenunterhaltung, die alles Bedeutende in ihren Shows, Zeitschriften, Filmen vorführt, die Menschen verführt, und jeglichen Sinn dem Lacher opfert. Wir müssen von Da-Sein der Protagonisten sprechen, da ihnen zwar ständig ungeheure Dinge zustoßen, in diesem Buch aber nichts so erzählt wird, das den Vortrieb von Wörtern wie „Schicksal“ oder „Leben“ rechtfertigen würde. Erst gegen Ende verdichten sich die Ereignisse wie in einem guten Kriminalroman und Foster Wallace führt die Fäden wieder zusammen, die er vorher in wildem Kalkül im Raum verteilt hatte.

Er hat sein Werk dabei als ein Panoptikum angelegt, keiner der einzelnen Abschnitte scheint auf den zweiten Blick noch das zu bedeuten, was er auf den ersten Blick bedeutete – das, nicht sein Umfang, nicht die Fußnoten – macht dieses Buch zu so einer immensen Herausforderung. Denn Foster Wallace zwingt den Leser hinab in sein Spiegelkabinett, dort ist es düster, das Licht grau, die Spiegel sind stumm. Er verwirrt seine Leser ohne sie mit einer geradlinigen Handlungsfolge zu beruhigen, die ihnen vorgaukeln könnte, der Geschichte noch folgen zu können – wenn sie sie eigentlich schon längst nichts mehr verstehen. Im Westen kennen wir diese Verwirrung, es ist unser zentrale Erfahrung, wenn wir offenen Herzens und mit skeptischem Verstand der Welt begegnen: Es ist viel los, und nichts macht Sinn. Alles rast, blinkt, zerbricht, liebt, hupt, grölt, flüstert, küsst, schreit, schmerzt, langweilt in dieser Welt. Wir können nicht davon sprechen, also müssen wir davor fliehen und unsere Sinne betäuben. David Foster Wallace lehnte das ab.

Sein Werk Unendlicher Spaß ist der Versuch, davon zu sprechen, es ist der Versuch, dem ganzen großen Knacks, der diese Welt ist, eine Form zu geben und uns Menschen wieder zusammenzuschließen als fühlende Wesen, die nur aufhören müssten, sich abzulenken und den Blick heben, in die Augen und tiefer hinein schauen müssten, nicht in der Politik oder der Armee oder der Wirtschaft, das sind verlorene Gebiete, nein, auf TV-Sofas, in Café-Stühlen, auf Schulbänken, an Werktischen, in Parks voller Dealer und Mütter, auf dem Acker, dort müssten die Menschen wieder mutig genug sein, zu fühlen, und ja auch sentimental zu werden, und noch mutiger werden, auch davon zu sprechen, und am mutigsten werden, und handeln wie sie fühlen, mit Pathos und ganzer Leidenschaft, für die sie in der Öffentlichkeit belächelt werden würden, und, wenn man so jemanden sieht, müsste man einmal selber mutig sein und folgenden Versuch starten: denjenigen ernst nehmen und sehen, was dann passiert; ich glaube, man würde mehr sprechen und man würde vielleicht nicht glücklicher sterben, aber alles hätte mehr Sinn gehabt, das gibt uns David Foster Wallace mit, und mehr kann man nicht von einem Buch verlangen.

Und diese großen Worte sind mein voller Ernst.  ̶N̶̶a̶̶t̶̶ü̶̶r̶̶l̶̶i̶̶c̶̶h̶̶.̶

Weiterlesen:

SW #142 – Farbe der Badebekleidung

„Mein Mann“, sagte Pippa, „war nur ein Mal am Pool. Gerade lang genug, um die These aufzustellen, in dieser Generation ließen sich die Einkommensverhältnisse an den Farben der Badebekleidung ablesen.“

Was einer englischen Hochzeit in der tunesischen Wüste noch fehle, sei doch ein Schweizer Geschäftsmann im Kostüm eines Südstaatenjunkers.

Jonas Lüscher, „Frühling der Barbaren“

Gustav Mahler und Marteria

Als ich merkte, dass Mahler und Marteria mehr gemeinsam haben, als sagen wir mal Mahler und Brahms, wollte ich die Gardinen aufziehen, Licht ins Zimmer lassen und in die Welt schauen. Ich verstand sofort, warum ich diesen Wunsch spürte, denn diese sonderbare Paarung ergab sich während Marteria von Schlaftabletten rappte; ich verband das mit jener schwarzen Symphonie, die Mahler kurz vor seinem Tod komponierte, und war sehr glücklich über diese Entdeckung.

MAHLER

MARTERIA

Marteria – Veronal (Eine Tablette nur) (ft. Miss Platnum) from GermanDream on Vimeo.

„Nützlich“

Wie schon in den Jahrtausenden zuvor fragten sich auch die Denker der kapitalistischen Zeiten, was der Mensch sei. „Nützlich“, wählten sie fast einstimmig zu ihrer besten Antwort, die leider niemand vernahm. Denn die Menschen selbst waren beschäftigt: Sie grübelten über einen neuen Typ Zahnbürste.

Schreibtischarbeit

Manchmal kommt es mir so vor, als bräuchte der moderne Arbeiter nur einen Skill: aufrecht gehen auch nach 40 Jahren Schreibtischarbeit.

Was man nicht liken kann

Die Vielzahl von Verkäufern, Beschwörern und Theatralikproduzenten in den Bars unserer Städte, in den WGs unserer Freunde und den Köpfen unserer Lieben macht die ständige Beobachtung des wandernden Herzens unnötig. Denn ein Mensch, der heute sein Herz auf dem rechten Fleck tragen will, muss es einfach auf der Zuge tragen. Schließlich gibt es nichts Ehrlicheres als ein offenes „Ich hasse dich“. Das kann man nicht liken.

Hitler-Humor und Produktivtät

Wäre ich Hitler-Parodist müsste ich mir in exakt dieser Silbenfolge das Wort „Produktivität“ ausdenken. Denn wie da die ersten beiden Silben zusammenknallen wie die Hacken auf dem Reichsparteitagsgelände, und die dritte und vierte Silbe ehrfürchtig kurz sind und die fünfte hinausgeplärrt wird wie ein Befehl im Wind, da liegt ja der Gedanke nahe, dass es zwischen Silbenfolge, Wortbedeutung und Klang eine Verbindung gibt, die nicht nur oberflächlich und zufällig ist – gerade nicht in unseren Zeiten. Und etwas besseres kann ein Parodist nicht finden als ein Wort, mit dem er zwei Sachen gleichzeitig verspotten kann, die so sehr des Spotts bedürfen.

SW #128 – Druck

Insanity laughs under pressure we’re cracking
Can’t we give ourselves one more chance
Why can’t we give love that one more chance
Why can’t we give love give love give love give love
give love give love give love give love give love
‚Cause love’s such an old fashioned word
And love dares you to care for
The people on the edge of the Night
And love dares you to change our way of
Caring about ourselves
This is our last dance
This is our last dance
This is ourselves
Under pressure
Under pressure
Pressure

Freddie Mercury, David Bowie

SW# 126 – Was rettet die Welt

Jemand hat etwas an die Wand geschrieben, die Buchstaben hell und blau,
kein Regen, keine Sonne, kein Wind in weißen Segeln.
Da steht: Was rettet die Welt?

Die Gleichheit im Gleichschritt der Sozialisten,
Imperialisten marschieren,
marschieren, produzieren, ich lese:
Was rettet die Welt?

Auf einem kleinen, roten Blatt in der Pfütze, einem Zettel am Baum,
am Bahnhof auf der Tafel in brüchigen Farben, auch hier nur:
Was rettet die Welt?

Nicht das Reden, nicht das Schweigen, nicht das Hören, nicht das Sehen,
nicht Konfuzianismus, Narzissmus, Kommunismus,
-ismus, -ismus.

Da steht auf der Platakwand vom Regen erweicht, vom Wind zerrissen:
-ismus, -ismus.

Doch:
Was rettet die Welt?

Kein Toben, kein Beben, kein Licht, kein Wasser, ein Schatten,
im Schatten ein Mann, eine Frau.

Im Schatten ein Mann, eine Frau,
Was rettet uns?

Katrin Sass, „Was rettet die Welt“ aus CD „Königskinder“