(Fortlaufende) Gedanken zur Glaubwürdigkeitskrise der Medien

Vielleicht ist die gegenwärtige Vertrauenskrise der Medien auch ein Symptom für eine tiefergehende Krise. Die Bürger benutzen die Fehler der Journalisten, um diese in Kommentarspalten (also auf Plattformen, die die Medien selbst bereitstellen) aufzudecken und sich so ihrer eigenen Macht und und Handlungsfähigkeit zu vergewissern. In der Wirtschaft und der Politik haben sie diese ja längst eingebüßt: Streiks werden durch den globalen Wettbewerb unwirksam gemacht und Wahlen mit unterschiedlichen Ergebnissen führen doch erstaunlich oft zu der gleichen Politik. Wenn das stimmt, wären Journalisten ultimativ auch auf die anderen Eliten angewiesen, um wieder glaubwürdig zu werden, müssten aber natürlich zunächst das implizite Versprechen einlösen, dass sie geben, wenn sie eine Kommentarspalte einrichten: „Wir hören euch zu“. – 16.11.

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Auffällig ist, dass eine Konfliktlinie zwischen Journalisten und ihrem Publikum ist, was als Manipulation gilt und was als handwerklicher Fehler. Das illustriert die Debatte um den einsamen Putin von Brisbane, die zwischen Stefan Niggemeier und der Tagesschau entbrannt ist. Der Chefredakteur fühlt sich zu unrecht angegriffen:

„Nun wirft uns Niggemeier vor, absichtlich [Hervorhebung durch mich] diesen Ausschnitt gewählt zu haben, in dem Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff vom Kellner verdeckt ist, um so zu tun, als ob Putin allein am Tisch gesessen habe.“

Und das stimmt nicht. Niggemeier wirft ihnen vor, einen Fehler gemacht zu haben an einer Stelle und bei einem Thema, bei dem derzeit keine Fehler passieren dürfen. Er wirft ihnen vor, ungeschickt zu agieren, was Gniffke noch verschlimmert durch seine Antwort. Es ist schwer, eine Manipulation von einem Fehler zu unterscheiden, weil beides ähnlich aussehen kann, aber unterschieden wird, weil die Manipulation gewollt ist und der Fehler nicht. Helfen könnten mehr Informationen darüber, wie die Nachricht entstanden ist oder ein persönlicher Draht zu dem Reporter. Helfen würde auch Vertrauen; ein Teufelskreis. – 18.11.

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Dieser Daily-Dot-Artikel liefert eine wichtige Spur in der Vertrauenskrise:

Buzzfeed’s ability to dominate the dissemination of its articles over social media with only approximately two percent of population both knowing what Buzzfeed it and viewing it as a trusted news source is evidence that trust doesn’t matter anymore when it comes to online media—especially when its disseminated through Facebook.

Pew researcher Kenny Olmstead noted that Facebook has the tendency to make people forget what outlet produced a specific piece of information, like the New York Times, and instead substitute the platform they used to discover the content in question—Facebook.

Das heißt: Der Journalist hat die Arbeit, der Verteiler bekommt das Vertrauen. Es heißt aber auch, dass es für Medien schwierig ist, eine vertrauensvolles Verhältnis zu ihren Lesern über Facebook aufzubauen. Und es heißt auch: Medien müssen viel stärker daran arbeiten, eine Plattform zu werden, die Leser gezielt ansteuern. – 19.11

(Dank Simon bin ich auf diesen Artikel gestoßen).

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Journalisten halten sich für die Guten, glauben qua Beruf auf der richtigen Seite aller Konflikte zu sein. Vielleicht ist das eine Ursache für den Zynismus, den viele von ihnen zur Schau stellen und er aus ihrer Sicht eine legitime Kritik ist. Wer glaubt, dass er im Recht sei, schreibt spitzer, titelt plakativer, urteilt härter. – 23.11.

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Wir sollten aber auch nicht alle Schuld den Journalisten zuschieben: Sie können nichts dafür, dass einige Menschen nicht verstehen, dass nicht jede Webseite und jedes Youtube-Video gleichermaßen ihre Aufmerksamkeit verdient. Dass die Informationen im Netz technisch gesehen zwar völlig gleich sind, aber deswegen nicht gleich viel wert. Wobei „Wert“ natürlich schwammig ist. Für die Kritiker der „Mainstream-Medien“ sind alternative Angebote schon wegen ihrer bloßen Existenz etwas wert während sich die „Mainstream-Medien“ mit jedem Beitrag neu rechtfertigen müssen. – 23.11.

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Ein Weg aus der Krise ist die persönliche Bande, die Ansprechbarkeit der Journalisten. Was dann aber auch dazu gehört: Redaktionelle Eingriffe, für die der Autor meistens nichts kann, sichtbar zu machen bspw. kommt es immer wieder vor, dass die Redaktion Überschriften so zuspitzt, dass sie falsch sind oder die Tatsachen verdrehen. Dafür rechtfertigen muss sich dann der Autor obwohl er der falsche Adressat ist. Wir könnten das mit einem einfachen Vermerk „Redigiert von..“ erreichen. Oder den Autoren das letzte Wort überlassen, so dass sie tatsächlich verantwortlich gemacht werden können. – 23.11.

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in loser Folge denke ich gerade über die vertrauenskrise nach, die unsere gesellschaft erschüttert. hier geht es zum ersten teil

Das Vertrauen bröckelt in einem kleinen, steten Beben

Ein paar noch unrunde Überlegungen zum allgegenwärtigen Misstrauen. Ich freue mich über eure Meinungen.

Die Vertrauenskrise, in der sich Deutschland und seine europäischen Nach barn befinden, ist umfassend. Die Bürger misstrauen den Politikern, der so genannten „politischen Klasse“, die abgehoben sei, machtversessen und egoman. Sie misstrauen den Bankern, die unsere Zivilisationen vor sechs Jahren im Mark erschüttern haben. Sie misstrauen den Chefs, die 30-mal so viel verdienen wie sie. Sie misstrauen den Journalisten, die in der Wulff-Affäre Bobbycars hinterhertelefonierten, sich in der Ukraine-Krise im Schützengraben wähnen und Demonstranten als „Wutbürger“, Nato-Kritiker als „Putin-Versteher“ schmähen. Ja selbst die Wissenschaftler und Staatsanwälte sind nach Plagiatsskandalen und fragwürdigen Klageschriften (Kachelmann, Wulff) nicht mehr unbefleckt.

Die Bürger misstrauen ihren Eliten, so viel ist sicher. Das ist verheerend, denn diese Eliten sind sichtbar, sie bewegen sich auf einer Bühne. Sie sind mit Sicherheit keine Vorbilder so wie Mario Götze ein Vorbild für kleine Fußball-Stars ist. Sie sind aber die Taktgeber der Gesellschaft; sie prägen, in dem sie vorleben. Ihre Verfehlungen vergrößern sich hundertfach und werden stilprägend. Wenn das Verhalten der Eliten anrüchig ist, wirkt es oft so als sei die ganze Gesellschaft verdorben. Mehr noch: Eliten verderben die Gesellschaft.

Beispiel: Ein Bundeskanzler nimmt kurz nach dem Ende seiner Amtszeit die Dienste eines großen Gaskonzerns an, den er vorher politisch protegiert hatte. Der Bundeskanzler hatte zuvor einen Eid geschworen, zum Wohle des Volkes zu arbeiten, den er aber hintenanstellt, sobald er es darf und sich lieber nimmt, was er kriegen kann. Warum sollte nicht auch ein kleiner Bürger jede legale Gelegenheit ergreifen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, wenn der Bundeskanzler es genauso macht? Und, wenn ein Rechtschaffener sieht, dass sein Mitbürger so handelt, warum sollte er es nicht selbst auch tun?

Noch ein Beispiel: Wenn Journalisten einen Gewerkschaftschef persönlich verunglimpfen, aber nicht gleichzeitig erklären, welche Rolle das Multi-Milliarden-Euro-Unternehmen spielt, das ihm gegenübersteht, dann wundere ich mich nicht, warum unter Nachbarn lieber geklagt wird als nachgefragt.

Wenn aber die Bürger sich grundlegend misstrauen, gerät alles ins Wanken. Dieser Effekt wird in unseren Zeiten verstärkt durch die allgemeine Unsicherheit, die Klimawandel, Wirtschaftskrisen und Terroranschläge hervorrufen. In einer guten Gesellschaft sind sich die Menschen sicher, dass ihre Mitbürger, auch wenn sie anders denken, leben, aussehen, noch eine Überzeugung teilen: dass es wichtig ist, was den Mitmenschen zustößt, dass sie das Gemeinwohl im Auge haben. Das Streben nach dem Gemeinwohl müsste sich wie ein kleiner Faden von der Ärztin zum Müllmann zum Offizier zur Studentin ziehen. Das würde Sicherheit schaffen. Denn, wenn ich weiß, dass sich mein Gegenüber auch um die Gemeinschaft kümmert, teile ich etwas mit ihm, habe weniger Angst vor ihm und traue ihm und meinen Mitmenschen generell mehr zu. Der Zusammenhalt wäre größer und die Gefahr von Radikalisierung und Extremismus kleiner.

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Ich spüre diese große Vertrauenskrise wie ein kleines, stetes Beben. Ich kann bisher keinen dieser Gedanken belegen. Das wollte ich an dieser Stelle aber auch noch nicht. Entsprechende Studien und Umfragen werde ich bei Gelegenheit heraussuchen. Über Hinweise bin ich dankbar.

 

Ich bin Journalist. Und seit heute auch noch ein bisschen mehr.

Ankündigungsplakat für den ersten Krautreporter-Lesertreff am 13. November 2014 im Wilma, Berlin

Ich bin 28 Jahre alt, die längste Zeit davon Journalist.
Manche meiner Aufgaben sind inzwischen Routine geworden. Was gut ist, denn bei meinem Telefonpensum darf ich einfach nicht mehr wie früher jedes Mal einen 20-minütigen Disput mit mir selbst halten bevor ich zum Hörer greife, nur weil ich so aufgeregt bin. Was aber auch schlecht ist, denn Routine bedeutet Langeweile, Gewohnheit, das Ende der Wachheit. Heute Abend aber habe ich etwas ganz Einfaches gemacht: ich habe meine Leser getroffen. 20 von ihnen kamen in eine wunderbar gemütliche Stube im Wedding zu einem Lesertreff von Krautreporter. Ich erzählte von meinen Westsahara-Recherchen, interviewte Said, der in einem Flüchtlingslager geboren wurde live vor Ort, wir diskutierten über neue Themen und darüber, was Krautreporter sein kann und sein soll. Manche dort waren Jahrgang 58, und manche Jahrgang 93, aber alle hatten sie Bock, sie waren freundlich, offen, überlegt, witzig und konstruktiv. Sie brachten mich in moralische Dilemmata, rissen den Vorhang meines Denkens auf, sagten genau das, was ich noch eine Stunde früher in der U-Bahn gedacht hatte. Sie gaben mir Anlass, sehr stolz auf sie zu sein. Was eigenartig ist, weil ich ja nichts mit diesen fremden Menschen gemein hatte, außer ein paar Krautreporter-Geschichten. Dieser Abend war alles andere als Routine. Ich musste sehr wach sein, um dort nichts zu verpassen. Ich bin die längste Zeit Journalist und seit heute Abend auch noch etwas anderes. Und das ist ziemlich gut.

Helft mir recherchieren: Russland, Serbien (und die EU)

Russlands Präsident Dmitri Medwedew spricht 2009 vor der serbischen Nationalversammlung. Quelle: Wikipedia / CC-SA-BY 3.0

Es war niemand aus der EU. Nicht der deutsche Bundeskanzler, der Kommissionspräsident oder der französische Präsident. Es war Dmitiri Medvedev, Präsident Russlands, der 2009 als erster ausländischer Würdenträger vor der serbischen Nationalversammlung sprach. Das ist ein Zeichen. Eine Mehrheit der Serben will nicht in die Nato, die das Land 1999 bombardiert hatte. Die serbischen Christen praktizieren die Orthodoxie, ähnlich den russischen. Und am 16. Oktober reist Wladimir Putin zu einem Kurztrip nach Belgrad, um der Befreiung der Stadt von den Nazis zu gedenken. Die Verbindungen zwischen den beiden slawischen Ländern Serbien und Russland sind eng.

Gleichzeitig will das Land Mitglied der EU werden. Seit 2009 brauchen Serben keine Visa mehr, wenn sie in den Schengen-Raum reisen.  2011 lieferte es die letzten, vom Haager Kriegsverbrechertribunal gesuchten Serben aus. Das schwierige Verhältnis zum Kosovo normalisiert sich in zwar kleinen, aber häufigen Schritten. Und seit Januar diesen Jahres verhandelt die EU offiziell mit dem Land über einen Beitritt.

Seit Beginn der Ukraine-Krise sitzt Serbien zwischen allen Stühlen – und darüber würde ich gerne für Krautreporter berichten. Ich reise in der dritten oder vierten Oktoberwoche in das Land. Natürlich gibt es ganz offensichtliche Stellen, an die ich mich wenden sollte, die Delegation der EU etwa oder das russische Kulturinstitut vor Ort.

Aber ich bin mir sicher, dass es auch noch Menschen und Orte gibt, die etwas über die Gratwanderung des Landes zwischen EU und RU erzählen können, aber mir nicht auf- oder einfallen würden.

Daher: Wenn ihr eine Idee oder einen Tipp habt, wen ich kontaktieren und sprechen soll,  meldet euch bitte bei mir. Egal, ob es das serbische Unternehmen ist, dass durch die EU-Sanktionen gegen Russland profitiert. Oder z.B. Serben, die, wie die  Tagesschau berichtet, auf Seiten der pro-russischen Separatisten in der Ukraine kämpfen.

Schreibt mir eine Mail, hinterlasst einen Kommentar oder sprecht mich auf Twitter an.

Danke!

 

Warum ich bei Krautreporter mitmache

Rico Grimm, Krautreporter from Krautreporter on Vimeo.

1. Weil es so naheliegend ist, Journalismus nur durch die Leser zu finanzieren – und es trotzdem in Deutschland auf diesem Niveau noch nie ausprobiert wurde.

2. Dabei hätte dieses Modell Vorteile für Autoren und Leser. Weil wir Journalisten über Themen schreiben könnte, die wichtig und interessant sind, aber in anderen Medien nicht veröffentlicht werden konnten, etwa weil sie nicht aktuell genug waren, zu komplex oder schlicht das Geld in der Redaktion fehlte. Etwa solche Beiträge, die alle aus meinem Alltag stammen:

  • über einen Bundeswehroberst, der mit Verweis auf das Grundgesetz Befehle verweigert hatte, dafür vom Bundesverwaltungsgericht Recht bekam und seitdem nie wieder befördert wurde
  • über die ersten privaten Weltraumraketen der Geschichte – die aus Deutschland stammten, im Kongo getestet wurden und für ein geheimes Cruise-Missile-Programm der Bundesrepublik gehalten wurden
  • über die Boom-Region Irak-Kurdistan, der gerade sein erstes Fass Öl ausgeliefert hat (u.a. an Israel) und der Nukleus für einen eigenen kurdischen Staat werden könnte.

3. Weil ich noch weiter mit fotojournalistischen Formaten, etwa solchen kurzen FotoText-Porträts experimentieren will. Denn ich glaube, dass „Geschichte“ bedeutungslos ist, wenn wir nicht erzählen, wie einzelne Menschen an ihr teil haben – und ihr Leben von ihr geformt wird.

4. Weil ich kein schlechtes Gewissen mehr haben will, wenn ich einen Text für ein Online-Medium schreibe – ob der Selbst-Ausbeutung, die das mit sich bringt. (Zur Info: 180 € vor Steuern für zwei Tage Arbeit sind nicht unüblich.)

5. Weil nichts so befriedigend ist, wie ein gutes Gespräch. Und das würde ich gerne mit den Lesern von Krautreporter führen. Mein großes Vorbild dabei: Ta Nehisi-Coats vom US-Magazin The Atlantic, der eine Kommentarspalte mit einem Abendessen vergleicht, zu dem der Leser eingeladen wird.

6. Weil der Hashtag #longreads abgeschafft gehört. Schließlich sollten lange, hintergründige Texte online nichts Besonderes mehr sein.

7. Weil Krautreporter das beste Argument gegenüber Verlagsmenschen für mehr Investitionen und Experimente wäre. In allen Häusern.

8. Weil ich nicht oft in meinem Leben ein Magazin gründen könnte. Und ihr auch nicht! Also werdet Mitgründer: www.krautreporter.de

SW #144 – Nur ein Fakt

In journalism just one fact that is false prejudices the entire work. In contrast, in fiction one single fact that is true gives legitimacy to the entire work.

Gabriel Garcia Marquez, The Art of Fiction No. 69, Paris Review

Der erste Kriegsjournalist (Botentod)

Der erste Marathon-Läufer starb zweimal: Als er die Nachricht überbrachte und als sie seinen langen Lauf nach dem Ort der Schlacht benannten und nicht nach ihm.

(Der Läufer hieß Pheidippides. Gewissermaßen war er der erste Kriegsjournalist.)

camera of Molhem Barakat, freelance photographer with reuters news agency in syria, blood stained

Molhem Barakat

camera of Molhem Barakat, freelance photographer with reuters news agency in syria, blood stained

Molhem Baraka war erst 17 Jahre alt und schon freiberuflicher Fotograf für Reuters in Syrien. Er starb vergangenen Freitag in Aleppo. Das sind seine Kameras.

Das Bild lässt mich nicht los.

Mein Kollege Benjamin Hiller hat auf meiner Facebook-Seite noch ein paar wichtige Fragen zur Rolle von Reuters aufgeworfen:

Jemanden von vor Ort, welcher allem Anschein nach weder Schutzweste noch Helm bekommen hat, und dazu noch Minderjährig ist, als „Stringer/Bilderlieferanten“ anzuheuern – und dabei zur gleichen Zeit sehr erfahrene Journalisten nicht mehr in diese Gebiete aus Sicherheitsgründe schickt bzw. sogar deren Fotos nicht mehr erwirbt. Hier liegt schon eine gewissen „Doppelzüngigkeit“ der Pressestandards vor

Weiterlesen: More Questions For Reuters About The Death Of Molhem Barakat, Teenage War Photographer

Nachrichten

Das Paradoxe an Nachrichten ist doch, dass wir aufhören, uns eine Vorstellung davon zu machen, was in der Welt geschieht, sobald wir uns von ihnen informieren lassen.

Der Hitchens in uns – was Englands größter Polemiker den Digital Natives lehren kann

Vor zwei Jahren starb der britisch-amerikanische Journalist Christopher Hitchens. Er war ein großer Polemiker, Buch-Fanatiker und hat nie getwittert. Genau deswegen kann er den Digital Natives viel lehren. Eine Handreichung in 5 Punkten. „Der Hitchens in uns – was Englands größter Polemiker den Digital Natives lehren kann“ weiterlesen

Das war’s auch schon

Warum Bukowski und Thompson öfter mal in Bars gepriesen werden? In ihren Arbeiten wird gesoffen, gehurt und gekokst. Das war’s auch schon.

3 Fragen, die sich Journalisten stellen sollten, wenn sie eine wissenschaftliche Studie lesen

Journalisten können vieles, ihrem Selbstverständnis nach sogar alles. Aber wissenschaftliche Studien lesen, fällt ihnen schwer. Hier sind drei Fragen, die sie sich bei der Lektüre einer Studie stellen sollten.

1. Können diese zwei Dinge wirklich miteinander in Verbindung stehen?

Eine Umfrage auf der (urkomischen) Homepage correlated.org ergab: Nur 27 Prozent aller Menschen benutzen regelmäßig Zahnseide. Aber unter denjenigen, die zusätzlich angaben, keine Computerspiele zu spielen, waren es 40 Prozent. Heißt das jetzt also, dass Videospielkonsum zu weniger Zahnseidengebrauch führt? Nein. Das ist Zufall. Ein Statistikprogramm hat das ausgerechnet. Es bleibt aber nur solange Zufall bis sie eine gute Theorie vorlegen können, um die merkwürdige Verbindung zu erklären. Ansonsten gilt: Korrelation ist nicht Kausalität.

Schreiben Sie sich diesen Satz überall hin, worauf Sie regelmäßig schauen, auf den Computerschirm zum Beispiel oder den Badezimmerspiegel. Wenn der Autor der Studie, die Ihnen gerade vorliegt, auch keine plausible Erklärung liefern kann, lassen Sie lieber die Finger davon und schreiben Sie nichts. Denn wie jeder Erstsemester lernt: Gib mir Daten, gib mir Zeit und der Weg zur These ist nicht weit (und die Hausarbeit gerettet!). Will heißen: Im Zweifel lässt sich eine Verbindung zwischen allen möglichen Dingen zeigen. Wo wir auch wieder bei correlated.org wären.

2. Hat der Autor der Studie wirklich alle Ereignisse berücksichtigt?

Nehmen wir an, ihr Leser/Nachbar/Schüler fragt Sie, warum es zu Krieg kommt. Weil Sie das nun auch nicht so genau wissen und gehört haben, das schon schlaue Menschen dazu geforscht haben, finden Sie eine Supi-Dupi-Studie, bei der alles passt und die den Titel trägt: „Warum es Krieg gibt“. Schön, denken Sie sich. Das war einfach. Diese Studie sagt nun: Am Krieg sind immer die Frauen schuld. Und der Autor kann das auch über Seiten hinweg ganz plausibel erklären: am Beispiel Helenas und des Trojanischen Krieges.

Hoffentlich ist ihr Leser/Nachbar/Schüler eine kluge Frau, wenn Sie ihr jetzt erklären, warum es immer Krieg gibt. Dann werden Sie nämlich zu erst als Chauvi beschimpft (zu recht!) und dann aufgeklärt, dass man doch nicht von einem Krieg auf alle schließen könne. Schon gar nicht von einem mythischen wie dem Trojanischen. „Ist doch logisch!“, denken Sie sich als schlauer Leser nachdem ich Ihnen dieses übertriebene Beispiel hier gebracht habe. Sie glauben aber nicht, wieviele Wissenschaftler damit Probleme haben, denn in der Realität ist es oft etwas vertrackter. Die Forscher nehmen dann ein paar Beispiele und sagen, dass sie für alle Ereignisse dieser Art stünden – ohne zu überprüfen, ob das auch stimmt.

Oder schlimmer noch: Sie nehmen dann nur die Beispiele, die ihnen in den Kram passen. Wenn ein Forscher so vorgeht, dann ist seine Studie nicht repräsentativ. Sie schmeißen diese Studie dann am Besten weg. Wie übrigens auch alle Studien, die ihnen ein für alle Mal erklären wollen, warum es zu Krieg kommt. Denn das ist wie mit der Geschichte von Frauen und Männern: viel zu kompliziert.

3. Hat er wirklich ALLE berücksichtigt?

Jetzt wird es appetitlich. Ihre Oma kocht nämlich zum Geburtstag für Sie, ihre Geschwister und die Enkel. Leider kann Oma nur noch ganz schlecht sehen, und hat statt zum Salz zum Zucker gegriffen und damit die Klöße gewürzt. Sie essen natürlich ihre Klöße brav auf. Sie wollen Oma ja nicht verärgern. Nur die Enkel verschwinden der Reihe nach während des Essens ins Bad. Als dann alle fertig sind, fragt Oma erwartungsfroh in die Runde: „Hat’s geschmeckt?“ Sie und die Verwandtschaft überbieten sich in Lobhudelei. Schließlich wartet noch ein Erbe. Nur die Kinder sind noch immer im Bad. Denen ist das Erbe egal, sie interessieren sich gerade nur für ihre Bauchschmerzen.

Oma muss aber den Eindruck gewinnen, dass es allen geschmeckt hat. Die Kinder, die stöhnend prostestieren könnten, krümmen sich auf dem Badvorleger (was sagt das eigentlich über Sie als Eltern aus?). Für die Oma ist das eine prima Sache. Sie kann beim Kaffeeklatsch mit den Freundinnen prahlen, wie sehr es allen geschmeckt habe, und dass sie doch, trotz des hohen Alters, noch kochen könne. So, wie die Oma, verhalten sich manchmal auch Forscher. Wenn in deren Studien Daten auftauchen, die konträr zu ihrem gewünschten Ergebnis liegen, lassen sie diese Daten einfach raus. Ausreißer nennen sie diese Daten dann. Oft haben die Forscher dafür eine gute Begründung. Manchmal aber auch nicht. Dann wollen sie einfach nicht zugeben, dass sie statt zum Salz zum Zucker gegriffen haben. Schließlich kann an einer Studie viel Geld und Ruhm hängen – mehr jedenfalls als am Erbe Ihrer Oma.

Drei Dinge: Korrelation ist nicht Kausalität; Repräsentativität; Ausreißer.

Für eine amüsante und lehrreiche Tour de Force durch die Untiefen des Wissenschaftsjournalismus empfehle ich „Die Wissenschaftslüge“ von Ben Goldacre (Affiliate Link)

Warum ich meinen Job liebe

Weil ich heute für zitty eine Reportage über eine recht neue Townhouse-Siedlung in Berlin geschrieben habe, deren erster Satz lauten konnte:

„Ungefähr dort, wo der kleine Luca gerade einen großen Rechen durch die Luft sausen lässt, kamen früher die Schweine an und wurden in den Schlachthof getrieben“.

Weil die Realität so absurd schön ist, so schön absurd.

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Warum wir auf den Nahostkonflikt starren

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Über Israels Koalitionsverhandlungen lesen wir alles, über die Millionen Tote im Kongo gar nichts. Der Nahostkonflikt ist die Obsession des Westens. Ein Erklärungsversuch. „Warum wir auf den Nahostkonflikt starren“ weiterlesen

Den besten Journalismus finden – 7 empfehlenswerte Kurateure

„Kuratierender Journalismus“ war vor vier Jahren ganz neu, dann ein kleiner Hype und ist inzwischen anerkannte Praxis. Es ist Zeit, die Kurateure zu kuratieren. Sieben Empfehlungen von mir.

Kuratieren als journalistisches Werkzeug ist aus der Nische gekommen und zu einem festen, akzeptierten Bestandteil des digitalen Journalismus geworden. Die Zeit der Grabenkämpfe – „Ist das wirklich Journalismus?“ – ist vorbei. Für Leser sind aufregende Zeiten angebrochen. Texte, die früher nur in Print-Magazinen veröffentlicht wurden, stehen jetzt online. New Yorker, Spiegel-Reportagen und Stücke aus dem SZ-Magazin. Wir müssen sie nur finden.

Man kann den richtigen Leuten auf Twitter folgen und den ganzen Tag unterhalten werden und staunen. Aber auf Twitter sind wir alle Zeitungsjungen, 140 Zeichen haben wir Platz, um zu empfehlen, wir müssen laut werden und das oft. Twitter ist als journalistisches Werkzeug nachrichtengetrieben, da übersehen wir vieles. Die in meinen Augen beste Geschichte des Jahres 2012, ein mitreißendes 125.000-Zeichen Epos über Fidel Castros amerikanischen General, habe ich nicht auf Twitter gefunden. Conor Friedersdorf hat sie mir per E-Mail empfohlen, wie ein guter Freund.

„The Best of Journalism“ – Conor Friedersdorf 

Conor Friedersdorf hat vor 5  Jahren begonnen, Lese-Empfehlungen an seine Freunde herumzuschicken. Daraus wurde ein veritabler Lese-Club. Denn für seine Empfehlungen verlangt Friedersdorf 23 $ im Jahr und die Leute zahlen gerne. Sicherlich hilft Friedersdorf, dass er beim Atlantic immer wieder zeigen kann, dass er selbst ein guter Schreiber ist. Dabei liest Friedersdorf nicht nur neue Geschichten, er geht auch in die Archive und kommt mit 30 Jahre alten Texten wieder heraus, die spannende Hintergründe für aktuelle Debatten liefern.

Typische Empfehlung

Liesmich

Liesmich gibt Empfehlungen für deutsche Texte. Diese sind mitnichten immer lang oder nur Reportagen, wie sie in ihrer Selbstbeschreibung schreiben. Die Güte entscheidet. Wer die Texte heraussucht, wissen die Leser allerdings nicht. Die Empfehlungen kommen aus dem Nichts und werden neutral angeteasert, was ich persönlich schade finde, aber nichts an der hohen Qualität der Tipps ändert.

Typische Empfehlung

Alternative

Longreads

Der englische Dienst Longreads stand Pate für viele Kurateure, für den inzwischen eingeschlafenen Twitter-Account „Gute Texte“ etwa und für Liesmich und Reportagen.fm augenscheinlich.  Auf Longreads muss ich mich allerdings nicht auf die anonymen Kurateure verlassen, sondern kann auch sehen, was die Community anklickt und das Archiv nach Lesezeit oder Wortzahl durchsuchen.

Typische Empfehlung

Byliner

Byliner ist wie Longreads nur auf Speed – und mit angeschlossener Buchhaltungsabteilung. Denn, wo sich Longreads durch Spenden und kleine Mitgliedsbeiträge finanziert, will Byliner nicht nur mit dem Kuratieren selbst Geld verdienen, sondern auch mit eigens in Auftrag gegebenen, langen journalistischen Texten: den „Byliner Originals“, die ich entweder einzeln kaufen oder mit einem Abo lesen kann. Gut 10 Dollar kostet ein Monatsabonnement, bei dem ich auch eine lesefreundlichere Variante der Texte im Archiv präsentiert bekomme. Im Archiv finden sich nach Byliner-Angaben über 50 Millionen Stücke, sortiert nach Autor und Thema. Ich kann einzelnen Autoren folgen, bekomme eine Benachrichtigung bei neuen Texten und sehe alle deren im Archiv verfügbaren Texte aufgelistet. Die Liste von John Jeremiah Sullivan habe ich immer noch nicht geschafft.

Weekly Filet

Leider hat der Schweizer Journalist David Bauer gerade eine Pause eingelegt. Sein „Weekly Filet“ erschien kürzlich zum 100. und vorerst letzten Mal. Ich nehme ihn aber dennoch in diese Liste auf. Damit er motiviert wird, weiterzumachen – und weil sein Archiv noch immer wertvoll ist. Bauer will „onyl the best food for thought“ versammeln. Das gelingt ihm gut. Hintergründige Fotos, Grafiken, Videos, Texte zu zumeist geselleschaftlich relevanten Entwicklungen in Technik und Wissenschaft findet er. Sie kommen aus oft – und das macht ihn einzigartig – eher abseitigen Quellen, die man nicht sowieso beobachtet. Oder haben Sie schon einmal von empiricalzeal.com gehört?

Nachtrag – 17.12 Uhr: Es geht weiter! Die nächste Ausgabe des Weekly Filet erscheint am 22.2. – gerne würde ich das jetzt auf diesen Blogpost zurückführen, aber diesen Entschluss hatte David schon früher gefasst.

Typische Empfehlung

„Brain Pickings“ von Maria Popova 

150.000 abonnieren ihren Newsletter, 270.000 folgen ihr auf Twitter, ein Porträt in der New York Times gibt es auch – Maria Popova ist die Königin des Kuratierens. In einer schier unglaublichen Frequenz entdeckt und beschreibt sie ihre Fundstücke auf der spendenfinanzierten Homepage brainpickings.org. Dabei zieht sie keine thematische Grenzen. Design, Wissenschaftsgeschichte, Literatur, Mathematik – alles verrührt sie zu einer unwiderstehlichen Mischung. Ihr Newsletter hat mir so schon viele Sonntage versüßt. Manchmal allerdings stört mich ihre uneingeschränkt bombastisch-positive Sprache, so dass ich das Mail-Abo am liebsten kündigen würde. Aber dann kommt wieder so eine Empfehlung zu Fahrrad-Design und ich bin versöhnt.

Typischer Text

„Next Draft – the days most fascinating news“  von Dave Pell 

Wenn Maria Popova die Königin des Kuratierens ist, dann ist Dave Pell ihr Hofnarr. Dave Pell verschickt jeden Abend unserer Zeit eine Mail mit Links zu den wichtigsten und interessantesten Dingen des Tages. Das wäre nichts besonderes, wenn er dabei nicht einen wunderbar selbstironischen, intelligenten Weg entwickelt hätte, die Teaser zu schreiben. Oft klicke ich auf keinen einzigen Link in seinem Newsletter. Das Lesen, auch per I-Phone-App möglich, genügt mir. Kostprobe aus der Weihnachtszeit:

The morning after attending a Bruce Springsteen concert, I told my kids that The Boss concluded the show by singing his famous version of Santa Claus is Coming to Town. My six year-old son immediately asked if he also sang I Have a Little Dreidel (in his defense, the name Springsteen does sound Jewish). As a Jewish parent, explaining the Santa story is especially tricky. If Santa is real, then why doesn’t he come to our house? And if Santa is a myth, then why shouldn’t we share that news with every other kid in our first grade class? Even for parents of kids who qualify for the naughty or nice list, deciding when to spill the beans about the man in red can be a touchy subject. In SlateMelinda Wenner Moyer wonders whether „The Santa Lie“ is hurting out kids. The short answer is no. (In my family, we’ll probably avoid the longer answer over a plate of latkes.)

Diese Liste hat natürlich Lücken. So suche und vermisse ich noch immer jemanden, der mir in persönlichem Stil die besten Videos empfiehlt. Oder jemanden, der die ganz bestimmt zahllosen großartigen Radio-Features und Reportagen und Podcasts sucht und schön aufbereitet. „Den besten Journalismus finden – 7 empfehlenswerte Kurateure“ weiterlesen

Wie eine ‚Straßenschlacht‘ entstehen kann – nur im Kopf der Betrachter

Ein passender Epilog zum letzten Post: Der italienische Fotograf Ruben Salvadori zeigt, dass auch die schlimmste Straßenschlacht manchmal nur ein Schauspiel ist